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Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor

Titel: Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Mark
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ohne sie ähnelten wir düsteren Schatten, ohne jede Form oder Substanz.« Er machte eine lange Pause. »Man kann die Vergangenheit nicht formen, und die Zukunft ist außerhalb unserer Reichweite, aber eines darfst du nicht vergessen, mein Kind: Es liegt in deiner Macht, deine Gegenwart zu formen.«
    Grace betrachtete die mit Blasen übersäte Tür des Waisenhauses. Was würde sie wohl erblicken, wenn sie sie öffnete? Würde sie Büschel trockener Disteln sehen, die zwischen dem verbrannten Balkenwerk wuchsen und ihre feine Saat wie Asche verteilten? Oder sähe sie ein kleines Mädchen, das in einem zerrissenen Nachthemd in einer Ecke kauerte? Gegenwart oder Vergangenheit? Sie konnte es nicht sagen.
    »Dann finde es heraus«, flüsterte Bruder Cy mit seiner rauhen Stimme. »Öffne die Tür und sieh, was dahinter liegt. Nur dann wirst du es erfahren.«
    »Ich kann nicht«, erwiderte sie voller Furcht, obwohl im gleichen Augenblick ein seltsamer Drang in ihrer Brust aufstieg. Ja. Warum war sie an diesen Ort gekommen, wenn nicht, um die Tür zu öffnen?
    Etwas Kleines und Kühles wurde in ihre Hand gedrückt. Ihre Finger schlossen sich um den Gegenstand.
    »Das ist nur ein Andenken«, sagte Bruder Cy. »Doch ihm könnte ein kleines Reservoir an Stärke innewohnen. Und vielleicht wird es dir dabei helfen, dich besser an meine Worte zu erinnern.« Das Flüstern des Predigers wurde leiser, als würde er in der Ferne verschwinden. »Öffne die Tür, mein Kind. Was du dahinter erblickst, liegt allein bei dir …«
    Die Worte des Predigers verschmolzen mit dem Nachtwind, und Grace wußte, daß sie allein war. Sie setzte einen Fuß vor den anderen und näherte sich der Tür des Waisenhauses. Diese seltsame Heimkehr, die sie niemals für möglich gehalten hätte, ließ ihr Herz pochen. Die vernarbte Tür ragte vor ihr auf. Sie schloß die Finger um den schmutzigen Türknauf und war fast überrascht, daß er sich kalt auf ihrer Haut anfühlte, statt vor Hitze zu glühen. Eine Sekunde lang hielt sie den Atem an. Dann drehte sie den Türknopf. Mit einem Quietschen schwang die Tür auf.
    Zuerst sah sie nichts als Dunkelheit, und sie befürchtete, daß das alles war, was hier auf sie wartete. Dann berührte etwas Kühles und Feuchtes ihr Gesicht. Einen Moment später fühlte sie eine weitere kühle, federgleiche Liebkosung auf der Wange, gefolgt von der nächsten und übernächsten. Dann sah sie sie im Licht der Scheinwerfer. Winzige weiße Punkte tanzten in der Luft und ließen sich auf ihren Armen, Händen und ihrem Haar nieder. Es war Schnee. Reiner, weißer, wunderschöner Schnee. Er wirbelte auf der Schwelle und hüllte sie in eine glitzernde Wolke.
    Nach den Geschehnissen des Tages gab ihr dies endlich den Rest. Sie taumelte. Alles drehte sich um sie. Der Schnee legte einen Schleier vor ihre Augen, ein Rauschen dröhnte in ihren Ohren. Die Vergangenheit war vergessen. Auch die Gegenwart war vergessen. Es gab kein Licht, aber es gab auch keine Dunkelheit. Ein leiser Seufzer entschlüpfte ihren Lippen und verwandelte sich in der eiskalten Luft in Nebel. Nur undeutlich nahm sie das Geräusch wahr, das an eine hinter ihr ins Schloß fallende Tür erinnerte.
    Dann fiel Grace nach vorn und versank in einem kalten und perfekten Weiß.

20
    Hadrian Farr wandte sich von dem ausgebrannten Gebäude ab und hob die Hand, um das Gesicht vor dem unangenehmen Wind zu schützen. Der schwarze Helikopter startete von dem zweispurigen Highway und stieg über dem verlassenen Haus in den glasklaren blauen Himmel. Der Pilot in seiner Plastikkanzel salutierte zum Abschied. Dann gewann der Helikopter an Geschwindigkeit und verschwand hinter den Bergen, die das Tal umschlossen. In die Morgenluft kehrte wieder Stille ein. Hadrian senkte den Kopf und ging zu der Limousine zurück, die vor der Ruine parkte, die einst, den Überresten eines Schildes zufolge, über das er gestolpert war, ein Waisenhaus gewesen war. Er hatte den Anzug der vergangenen Nacht gegen Wollhosen und einen Norwegerpullover eingetauscht. Er griff durch das Seitenfenster, öffnete das Handschuhfach und schaltete den darin befindlichen Sender aus. Sie hatten das Signal kurz nach Einbruch der Morgendämmerung aufgespürt, aber in dem Augenblick, in dem sie landeten, hatte Hadrian bereits gewußt, daß sie zu spät kamen. Obwohl Dr. Becketts Fußabdrücke von den gespaltenen Hufen eines Hirsches verwischt waren, hatte er sie bis zum Eingang des Gebäudes verfolgen können. Hier hatte

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