Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
zusammengefaltetes Stoffhandtuch, ein brauner Klumpen, den sie für Seife hielt, sowie eine mit getrockneten Kräutern und Blütenblättern gefüllte Porzellanschüssel.
Grace warf dem Fenster noch einen Blick zu. Sie wollte mehr über den Ort erfahren, an dem sie sich befand. Doch das Fenster konnte warten, denn im Augenblick verlangte ihr unterkühlter Körper schmerzlich danach, in heißes Wasser einzutauchen. Eine ganze Sekunde wog sie die Möglichkeiten ab – Fenster oder Bad.
Das Bad gewann.
Sie trat vor das Feuer, schleuderte die kalten Schuhe von sich und fing an, die Bluse aufzuknöpfen. Erst da wurde ihr überhaupt erst bewußt, daß ihre linke Hand zu einer verkrampften Faust geballt war. Sie dachte darüber nach und erkannte, daß das schon die ganze Zeit so gewesen war. Während des Ritts hatte sie die Wolldecke mit der Rechten umklammert, und die hatte sie auch Alerain entgegengestreckt. Die ganze Zeit über hatte sie die linke Hand geschlossen gehalten, und sie war vor Kälte so starr gewesen, daß es ihr nicht einmal aufgefallen war. Mit der Rechten bog sie nun die Finger der Linken auf.
Auf der Handfläche funkelte etwas Kleines und Silbernes.
Grace betrachtete den Gegenstand genauer, den sie so fest gehalten hatte. Er sah aus wie die Hälfte einer Münze. Auf jeder Seite war ein Muster auszumachen, aber sie konnte nicht erkennen, was es eigentlich darstellte, dazu war die halbierte Münze zu abgegriffen. Sie mußte außerordentlich alt sein. Aber wo kam sie her?
In ihrem Inneren schien eine krächzende Stimme erneut zu sprechen. Das ist nur ein Andenken. Doch ihm könnte ein kleines Reservoir an Stärke innewohnen.
Natürlich. Er hatte sie ihr gegeben. Der seltsame Prediger in Schwarz. Bruder Cy. Sie erinnerte sich, wie er ihr etwas Kleines und Kühles in die Hand gedrückt hatte, kurz bevor sie die Tür des Waisenhauses öffnete. Kurz bevor alles in dem Weiß versunken war und sie sich hier wiedergefunden hatte, in dieser …
»… Welt?« Sie flüsterte es laut.
Ja. Das war das Wort, das am Rande ihres Verstandes gelauert und darauf gewartet hatte, daß sie es aussprach. Das hier war nicht die Erde der Gegenwart. Das war nicht einmal die Erde eines längst vergangenen Jahrhunderts. Sie war sich nicht sicher, wieso sie das wußte, aber sie tat es. Vielleicht handelte es sich um tiefsitzenden und urzeitlichen menschlichen Instinkt, der im Verlauf der Millionen von Jahren andauernden Evolution in ihre Chromosomen eingebettet worden war und der auf die winzigen Unterschiede in der Farbe des Lichts oder der Schwerkraft oder der chemischen Zusammensetzung der Atmosphäre reagierte. Und der ihr sagte, daß das nicht ihre Welt war.
Und doch schien es nicht ganz richtig zu sein. Wenn das tatsächlich der Fall war, dann hätte das Wissen, sich nicht länger auf der Erde zu befinden, daß sie irgendwie durch ein unmögliches Tor in eine andere, fremde Welt gestolpert war, ihre Adern mit Furcht und Adrenalin überfluten müssen. Funktionierten Instinkte nicht genau auf diese Weise? Doch trotz aller Fremdartigkeit hatte dieser Ort etwas an sich, das seltsam vertraut erschien.
Nichts davon diente dazu, eine Antwort auf ihre ursprüngliche Frage zu geben. Wie war sie hierhergelangt? Hatte er sie auf diese Welt geschickt? Aber der Prediger hatte ihr gesagt, daß es ihre Sache sei, was sie hinter der Tür des Waisenhauses erwartete. Vielleicht hatte ja etwas tief in ihrem Inneren sich gewünscht, einen Weg in eine andere Welt zu finden.
Sie griff in die Hosentasche und zog etwas hervor. Es war feucht und zerknittert, jedoch noch immer zu entziffern: Hadrian Farrs Visitenkarte. Farr hatte ihr gesagt, daß die Sucher die Aufgabe hatten, nach seltsamen Geschehnissen Ausschau zu halten und sie zu studieren.
Grace fühlte einen düsteren Humor in sich aufsteigen. »Sie hätten bei mir bleiben sollen, Farr. Noch Seltsameres als das hier gibt es nicht.«
Ein Frösteln erinnerte sie an das dampfende Badewasser. Sie plazierte die Karte und die Münze auf dem Kaminsims, dann nahm sie ihre Kette ab und legte sie daneben. Wenn sie zur Erde zurückkehrte – falls sie zur Erde zurückkehrte, berichtigte sie sich und unterdrückte den Gedanken dann –, würde sie die Nummer auf der Karte anrufen und mit den Suchern sprechen. Doch im Augenblick hatte sie sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, von denen das wichtigste ihr Überleben war.
So schnell es mit den steifen Fingern ging, zog sie sich die
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