Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
sie ihn passierten, riß der Wächter die Augen weit auf. Er stieß seinem Gefährten den Ellbogen in die Rippen, der daraufhin ähnlich reagierte. Durge sah stur geradeaus. Grace warf einen letzten Blick zurück und sah, wie die beiden Bewaffneten mit den Händen seltsame Zeichen machten. Dann passierte das Pferd den Torbogen und betrat die sich anschließende Fläche.
Es war ein Schloßhof. Hohe Mauern umschlossen ein Areal vom Ausmaß eines Häuserblocks einer Großstadt. Der Schloßhof – oder Burghof, wie ihn der Wächter genannt hatte – wurde von Steinbauten in allen Größen und Formen umringt, von denen jeder mit der Hinterseite an die Schloßmauer angrenzte. Kleinere, aus Holz errichtete Häuser standen auf dem Hof verstreut. Es hatte den Anschein, als würde eine Art Markt abgehalten, denn der Burghof wimmelte nur so von Bauern und Schloßbewohnern. Die Hufe des Viehs und die Räder der Karren hatten den Boden in Schlamm verwandelt. Es gab genausoviel zu riechen wie zu sehen, und Grace wurde von Gerüchen nach Rauch, Tierkot und gebratenem Fleisch eingehüllt. Falls sie noch irgendwelche Zweifel gehabt hatte, daß dieser Ort real war, spätestens jetzt waren sie aus ihrem Bewußtsein getilgt.
Der Ritter, sein Pferd und seine Begleiterin bewegten sich über den dichtbevölkerten Hof.
»Was hatte das eben zu bedeuten?« Grace deutete auf das hinter ihnen befindliche Schloßtor. »Die Wächter verhielten sich so merkwürdig, als sie mich sahen.«
Der Ritter räusperte sich. »Das solltet Ihr nicht beachten, Mylady. Sie fragen sich nur, wer Ihr seid, das ist alles. Ihr müßt ihnen vergeben. Es sind einfache Leute.«
Grace akzeptierte dies, aber sie war davon überzeugt, daß noch mehr dahintersteckte, etwas, das Durge ihr nicht sagte. Ein silbernes Funkeln erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie blickte zu Boden. Es war eine Pfütze, ein Spiegel des Himmels über ihnen. Ein geisterhaftes Gesicht blickte ihr entgegen: schmal, gespenstisch blaß, grün-goldene Augen wie Edelsteine über hohen Wangenknochen. Es war ihr Spiegelbild. Kein Wunder, daß die Wächter sie so angestarrt hatten. Das Pferd ging weiter, und das Spiegelbild verschwand.
Am anderen Ende des Hofes stand eine Mauer, die dunkler und älter als die anderen aussah. Darin befand sich ein zweites Tor, und Durge steuerte sein Pferd darauf zu.
»Wir werden uns an Lord Alerain wenden, Mylady«, sagte der Ritter. »Er ist des Königs Seneschall und für Besucher zuständig. Ich muß mich bei ihm anmelden, und er wird sich um Eure Bedürfnisse kümmern.«
Grace nickte ruckartig. Es war nicht so, als hätte sie Alternativvorschläge gehabt.
Sie passierten das Tor und kamen auf einen kleineren Hof. Auf dem Oberen Burghof ging es bedeutend leiser zu als auf dem Unteren. Grace kam zu dem Schluß, daß es sich hier um den ältesten Teil des Schlosses handeln mußte, denn die Mauern sahen massiver und verwitterter aus. Ihnen gegenüber erhob sich der hohe, rechteckige Turm, den sie schon zuvor erblickt hatte. Das mußte der ursprüngliche Bergfried der einstigen Hügelfestung gewesen sein, obwohl die Schichten aus verschiedenfarbigen Steinen ein deutlicher Hinweis darauf waren, daß der Turm in seiner Geschichte oftmals erweitert worden war. Von seinen Seiten gingen später errichtete Flügel ab, die den Hof wie steinerne Schwingen kreisförmig umschlossen.
In der Mitte des Oberen Burghofs befand sich ein dicht bewachsener Garten voller Gestrüpp, der beinahe wie ein kleiner Wald aussah. Selbst in diesem Winterwetter roch Grace den schwachen Duft der Blumen, irgendwo in dem Garten plätscherte Wasser. Sie seufzte. Das hier war ein friedlicher und privater Zufluchtsort. Selbst die dicken Steinmauern vermittelten eher Behaglichkeit, als daß sie einengten.
Hier hielten sich deutlich weniger Menschen auf – es handelte sich hauptsächlich um Wächter und andere Leute, die Grace für Diener hielt. Durge bat einen ergrauten Wächter, ihm die Richtung zum Königsstall zu zeigen, und der Mann deutete auf ein langes Holzgebäude. Als sie sich ihm näherten, konnte Grace den Duft von Pferden riechen.
Der Ritter ließ sein Tier anhalten und stieg ab, dann streckte er die Arme aus, um Grace herunterzuhelfen. Sie war steif und unbeholfen und wäre beinahe gefallen, aber Durge fing sie mit seinen starken Armen auf und setzte sie auf dem Boden ab.
Eine scharfe Stimme kam aus dem Stall. »Und das nächste Mal, wenn ich dich beim Schlafen erwische, mein
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