Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
versehen, das sie schon immer gemocht hatte, und die getrockneten Früchte waren eßbar, wenn auch etwas zäh. Alles in allem hatte Grace schon an wesentlich schlimmeren Mahlzeiten teilgenommen, obwohl sie bei ihrem Hunger sich vermutlich auch mit Hundefutter zufriedengegeben hätte.
Herzhaftes Zugreifen war gesättigtem Herumstochern gewichen, als sie an der Stelle neben dem Kamin, wo ihre Kleidung gelegen hatte, etwas entdeckte. Es handelte sich um ein Paar Stiefel. Sie legte den Löffel weg, stand auf und holte sie. Sie waren aus anschmiegsamem Hirschleder gefertigt. Grace setzte sich auf den Stuhl und probierte sie an. Sie glitten buttergleich über ihre Füße und Waden, und sie konnte ein entzücktes Stöhnen nicht unterdrücken. Die Stiefel paßten wie angegossen. Sie paßten sogar so gut, daß ihr der Verdacht kam, daß man sie während ihres Schlafes speziell für sie angefertigt hatte, indem man ihre Krankenhausschuhe als Muster benutzte. Sie stand auf und ging in dem Gemach umher, um ihre neue Fußbekleidung auszuprobieren. Sie schmiegten sich eng an ihre Füße, dehnten sich aber bei jedem Schritt, als würde sie die Stiefel schon jahrelang tragen. Sie hätte garantiert zwanzig Meilen darin marschieren können, ohne eine einzige Blase davonzutragen.
Ihr Weg führte in die Nähe eines der schmalen Fenster, und ihr wurde bewußt, daß sie noch nicht hinausgesehen hatte. Sie blieb stehen und blickte durch das Fenster. Es war mit einer unebenen Scheibe voller Blasen, Sandkörner und anderen Unvollkommenheiten ausgestattet, die im Sonnenlicht funkelten. Der Effekt war eher schön als störend.
Sie befand sich in einem der oberen Stockwerke eines der Flügel, die im rechten Winkel an den Bergfried angebaut worden waren. Zu ihrer Linken konnte sie den Königsturm sehen. Zu ihrer Rechten war das Tor, durch das sie und der Ritter Durge den Oberen Burghof betreten hatten. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich der andere Flügel, und in der Hofmitte der verwilderte Garten. Mit kahlen Ästen versehene Bäume behinderten die Sicht auf die Gartenmitte, aber sie konnte sowohl verschlungene Pfade wie auch den immergrünen Irrgarten des Heckenlabyrinths ausmachen. Die Sonne versank hinter den Türmen und Fahnenstangen des Schlosses und überzog sie mit geschmolzenem Gold, während Dutzende Flaggen im scharfen Wind flatterten und sich hell vom dunkler werdenden Himmel abhoben.
Grace starrte noch immer aus dem Fenster, als es an der Tür leise klopfte.
35
Grace drehte sich um und sah die Tür an. Einen Augenblick später ertönte das Klopfen erneut, sanft und doch beharrlich. Sie erstarrte vor Panik. Was sollte sie tun? Sie konnte jeder schrecklichen Verletzung gegenübertreten, jede noch so furchtbare Krankheit behandeln, konnte die Verletzten wie Marionetten dirigieren, deren Fäden zerschnitten waren. Warum jagten ihr nur gesunde Menschen eine derartige Furcht ein?
Sie räusperte sich und rief: »Herein.« Das Zittern ihrer Stimme ließ sie innerlich zusammenzucken.
Sogleich hob sich der Riegel, dann schwang die Tür auf. Eine junge Frau betrat das Gemach, und Grace wußte sofort, daß es sich hier um keine Dienerin handelte.
Also so trägt man die Kleider.
Die junge Frau trug das Gewand voller Eleganz, und seine schwungvollen Linien unterstrichen ihre gertenschlanke Gestalt, statt sie einzuengen oder zu verbergen. Ein gefaltetes Tuch verbarg anmutig ihre rechte Schulter. Das Saphirblau des Kleides paßte perfekt zu den großen Augen der jungen Frau und bot einen Kontrast zu ihrem dunklen Haar und der elfenbeinfarbenen Haut. Ihre Gesichtszüge waren edel geschnitten, doch hinter ihrer Zartheit schimmerte deutlich Stärke hervor. Im Augenblick war sie hübsch, doch mit den Jahren würde sie zu einer Schönheit heranreifen.
Sie machte einen tiefen Knicks. Wie schaffte sie das bloß in diesem schweren Gewand? Sie ließ die Bewegung mühelos erscheinen.
Schließlich richtete sich die junge Frau wieder auf. »Störe ich Euch, Euer Hoheit?« fragte sie mit heller Stimme.
Graces Überraschung machte Gereiztheit Platz. Sie stöhnte auf. »Ihr nicht auch noch.«
Besorgnis huschte über das Gesicht der jungen Frau. »Ist Eure Hoheit etwa in Ihrer Ruhe gestört worden?« Besorgnis verwandelte sich in stillen Zorn. »Seid versichert, daß ich die Schuldigen dieser schrecklichen Tat finden werde und sie ordentlich prügeln lasse, Euer Hoheit!«
Grace dachte an die beiden ängstlichen Dienerinnen und schüttelte
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