Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
zusammen.
»Du kennst den Grund, nicht wahr?«
Aryn setzte sich wieder neben sie, einen besorgten Ausdruck im Gesicht. »Darüber mußt du dir wirklich keine Gedanken machen, Grace. Das sind schließlich einfache Leute – die zum Aberglauben neigen. Und auch zum Klatsch. Ich fürchte, du warst noch keine Stunde hier, als die Geschichte, wie dich der Graf von Steinspalter im Dämmerwald fand, bereits dreimal im ganzen Schloß rum war. Natürlich wurde die Geschichte bei jedem Erzählen phantastischer und entfernte sich noch weiter von der Wahrheit, bis die Diener bald davon überzeugt waren, du seist tatsächlich eine …«
»Daß ich was bin?«
Aryn holte tief Luft. »Daß du tatsächlich eine Feenkönigin bist.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß, das ist reine Phantasie, aber über den Dämmerwald sind viele seltsame Geschichten im Umlauf. Natürlich sind das kaum mehr als Märchen, die man erzählt, um den Kindern im Schein des Kaminfeuers einen Schrecken einzujagen. Aber als dich der Graf ins Schloß brachte, warst du schneeweiß, und du bist mit Sicherheit schön genug, um dem Feenvolk anzugehören. Ich habe noch niemals zuvor Augen mit einer solchen Farbe gesehen, wie du sie hast. Sie sind erstaunlich, wie ein Sommerwald. Darum hoffe ich, du bist nicht zu ärgerlich, daß dich die Diener für eine Königin des Kleinen Volkes hielten.«
Die Baronesse mußte über ihre eigenen Worte lachen, aber plötzlich schwand ihre Heiterkeit abrupt. »Sie irren sich doch, oder?«
Das war das erste Mal, daß Grace beschuldigt worden war, eine Feenkönigin zu sein. Sie tat ihr Bestes, beruhigend zu klingen. »Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber ich fürchte, ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch.«
Aryns Lächeln gewann wieder an Kraft. »Das bezweifle ich dann doch. An dir ist nichts Gewöhnliches, Grace von Beckett.« Die Baronesse beugte sich vor, warf ihren linken Arm um Graces Schultern und drückte die Wange an die ihre. »Wir werden Freundinnen sein, nicht wahr, Grace?«
Grace versteifte sich, von dieser plötzlichen Zurschaustellung von Gefühlen aus dem Konzept gebracht. Das war genau die Sorte von Vertraulichkeit, vor der sie sich ihr ganzes Leben lang in acht genommen hatte. Sie wagte es nicht, jemandem so nahe zu kommen, nicht jetzt, noch nicht. Es war viel zu gefährlich. Doch allmählich ließ die Herzlichkeit der Baronesse ihre Ängste schmelzen, und sie erwiderte die Umarmung zaghaft.
»Nein, Aryn«, sagte Grace zu ihrer eigenen Überraschung. »Ich glaube, das sind wir schon.«
Und in diesem Augenblick erkannte sie, was sie die ganze Zeit schon unterbewußt beschäftigt hatte. In der Sekunde, in der die Baronesse von Elsandry das Gemach betreten hatte, waren ihre Ärztinneninstinkte zum Leben erwacht und hatten etwas gespürt, das nicht in Ordnung war. Bis zu diesem Augenblick hatten sich diese Instinkte damit zufriedengegeben, im Hintergrund von Graces Bewußtsein zu bleiben und alles geduldig und leidenschaftslos zu beobachten. Jetzt drängten sie sich in den Vordergrund. Bevor Grace überhaupt darüber nachdachte, was sie da tat, schob sie die Baronesse sanft zurück und betrachtete die junge Frau mit prüfenden Blicken.
»Aryn, darf ich mir deinen rechten Arm ansehen?«
Die Baronesse wurde blaß, ein dunkler Schatten stahl sich in ihren Blick. »Meinen Arm? Warum solltest du dir meinen Arm ansehen wollen?«
»Ich bin Ärztin«, sagte Grace ernst. »Möglicherweise könnte ich dir helfen.«
»Eine Ärztin?«
»Ich heile Menschen, Aryn.«
Nach kurzem Zögern nickte die Baronesse. »Ich verstehe. Du meinst, du bist ein Chirurgeon.«
»Du bist überrascht«, sagte Grace. »Gibt es hier auf … in Calavan keine Frauen als Ärzte?«
Aryn sah sie überrascht an. »Hier gibt es nur Heilerinnen, was sonst? Männer betrachten diese Tätigkeit als unter ihrer Würde, obwohl ich ehrlich gesagt glaube, daß sie einfach nur zu zimperlich sind. Außerdem fehlt ihnen die Geduld für ein so heikles Handwerk. Aber ich hätte wissen müssen, daß du ein Chirurgeon bist. Du hast etwas von den Wissenden an dir.« Die Baronesse stählte sich. »Natürlich darfst du mich untersuchen, Grace, aber ich bezweifle, daß du mir helfen kannst.«
Mit der gleichen Präzision, die sie immer benutzte, wenn sie in der Notaufnahme einen neuen Patienten untersuchte, schob Grace das Tuch beiseite, das über Aryns Schulter hing. Darunter ruhte der verkümmerte rechte Arm der Baronesse in einer aus
Weitere Kostenlose Bücher