Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
sein.«
Travis holte tief Luft und begann mit leiser Stimme zu berichten, was er alles seit diesem letzten, schicksalhaften Abend in Castle City erlebt hatte. Während der ganzen Zeit betrachtete ihn Melia mit einer ruhigen, ausgeglichenen Konzentration, als könnte nichts, was er möglicherweise sagte, sie auch nur im geringsten überraschen, aber Beltan machte große Augen.
Schließlich verstummte Travis. Melia stand auf und trat mit raschelndem Kleid vor ihn hin.
»Darf ich die Schatulle sehen?«
Er sprang auf die Füße. »Natürlich.« Er holte die kleine Schatulle aus Eisen hervor und hielt sie Melia hin.
Sie schüttelte den Kopf. »Du öffnest sie. Bitte.«
So höflich Melias Worte auch klangen, schienen sie doch weniger eine Bitte als ein Befehl zu sein. Travis betätigte den Verschluß und öffnete den Deckel. Der darin befindliche graugrüne Stein funkelte im Morgenlicht. Melia schaute in die Schatulle und untersuchte den Stein, obwohl sie darauf achtete, ihn nicht zu berühren. Dann bedeutete sie Travis, den Deckel wieder zu schließen.
»Was glaubst du« – Travis bemerkte ihren Blick, stutzte und verbesserte sich –, »was glaubt Ihr, worum es sich hier handelt, Lady Melia?«
Sie hielt sich den Ellbogen und stützte mit der anderen Hand das Kinn. »Ich glaube gar nichts. Zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Aber ich vermute, du tätest klug daran, diese Schatulle gut verborgen zu halten, Travis. Öffne sie nicht mehr, es sei denn aus einem absolut unerläßlichen Grund.«
Travis steckte sie wieder ein. Falken hatte alles sehr nachdenklich verfolgt. Offensichtlich hatte die Lady einen Verdacht, was die Natur des Steins betraf, wollte ihn aber nicht preisgeben. Und Travis hatte nicht die Absicht, sie danach zu fragen. Er hatte schon genug Überraschungen für einen Tag erlebt.
Falken wickelte die gespaltene Steinscheibe wieder in ihr Tuch ein und verstaute sie. »Laßt uns gehen. Ich glaube, es ist an der Zeit, sich von unserem guten König Kel zu verabschieden. Es ist ein langer Weg nach Calavan.«
Melia deutete unmerklich auf Travis. »Und was machen wir mit unserem kleinen Problem?«
»Nun, falls du keine Idee hast, haben wir keine Möglichkeit, ihn in seine eigene Welt zurückzuschaffen.«
Melia tippte sich mit dem Zeigefinger an die Wange. »Ich glaube, wir sollten ihn lieber nach Calavere mitnehmen. Nach dem kleinen Zwischenfall mit der gebundenen Rune ist es klüger, ihn im Auge zu behalten.«
»Ganz meine Meinung.«
»Entschuldigung«, sagte Travis, der sich darüber ärgerte, daß man über ihn sprach, als wäre er nicht anwesend, »habe ich darüber nicht auch zu entscheiden?«
Offensichtlich nicht. Melia und Falken verließen den Turm und gingen auf die Burg zu; dabei schmiedeten sie angeregt Pläne über die Reise nach Süden.
Travis starrte ihnen hinterher und verspürte dabei mehr als nur ein bißchen Selbstmitleid. »Nie sagt mir jemand, was hier eigentlich wirklich los ist.«
Beltan legte eine große Hand auf Travis' Schulter. »Daran solltest du dich besser gewöhnen«, sagte der Ritter mit einem Grinsen. »Die beiden halten nicht viel davon, Dinge zu erklären.« Er ging hinter dem Barden und der Lady her.
Travis blieb allein in dem leeren Turm zurück. Dann holte er tief Luft und folgte den anderen durch die Ruinen.
34
Ein leises Geräusch wie die Bewegungen einer Maus weckte Grace. Sie schlug die Augen auf und blinzelte. Honigfarbenes Licht füllte das Schlafgemach. Sie drehte den Kopf auf dem Kissen und sah goldene Sonnenstrahlen durch das schmale Fenster schräg einfallen. Als Durge sie ins Schloß gebracht hatte, war es Vormittag gewesen und hatte geschneit. Die Wolkendecke mußte aufgebrochen sein; es war später Nachmittag. Sie hatte stundenlang geschlafen.
Sie runzelte die Stirn. Da war er wieder, der Laut, der sie geweckt hatte: ein Rascheln, dem das kaum hörbare Tap-tap leiser Schritte folgte. Grace stieß die Bettdecke beiseite und setzte sich auf.
Zwei Dienstmägde in grauen Kleidern erstarrten wie junge Rehe im Lichtstrahl der Taschenlampe eines Jägers und starrten Grace mit vor Überraschung offenstehenden Mündern an. Eine der jungen Frauen stand neben dem Tisch, der vorhin noch nicht dort gestanden hatte, und war gerade im Begriff, ein vollbeladenes Tablett abzustellen. Die andere hob gerade Graces Kleidung auf, die noch immer vor dem Kamin lag.
Grace räusperte sich. »Hallo.«
Der Reaktion nach zu urteilen, die sie verursachte, hätte
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