Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
einem Leinentuch gefertigten Schlinge.
Aryn saß ganz still da und starrte unbewegt aus dem Fenster, während Grace sie untersuchte und systematisch eine Diagnose stellte. Im Gegensatz zum linken Arm, der ganz normal entwickelt war, war der rechte mißgebildet und gründlich atrophiert; er wies etwa zwei Drittel der Länge seines Gegenstücks auf. Unter der wachsbleichen Haut kamen verkrümmte und zerbrechliche Knochen zum Vorschein; sie sahen aus wie die miteinander verflochtenen Ranken einer Weinrebe. Lediglich hauchdünne Muskeln wiesen jene perfekte, feuchtschimmernde Glätte auf, die mit permanentem Nichtgebrauch einherging. Die Hand wurde in einer permanent gebeugten und einwärts gedrehten Position gehalten – Gelenk und Handfläche waren gekrümmt, die Finger nach innen gedreht. Mittel-, Ring- und kleiner Finger waren nur teilweise entwickelt und erfüllten die Kriterien der Syndaktylie: sie waren miteinander verwachsen. Das Resultat war fremdartig und schön zugleich, wie der weiße, verdrehte Arm einer Kabuki-Tänzerin, erstarrt in einer Geste leiser Traurigkeit; der Sturz einer verletzten Taube, die Stille eines Eibenzweiges im Winter.
»Kannst du meine Finger drücken?« fragte Grace in ihrem entschiedenen Medizinertonfail.
Aryn runzelte die Stirn; man konnte ihr die Konzentration ansehen. Die zusammengekrümmten Finger schlossen sich sanft um Graces Hand. Dann zog die Baronesse ihren Arm mit einem Keuchen zurück und hielt das verkümmerte Glied eng an den Körper. Mit der linken Hand richtete sie energisch das Tuch und verbarg den Arm wieder.
Grace holte tief Luft. »Du hast recht, Aryn. Es ist ein Geburtsfehler. Es gibt nichts, was ich tun könnte.«
Aryn nickte. »Du mußt dir keine Sorgen machen, Grace. Es macht mir nichts aus. Ich bin wirklich daran gewöhnt.« Die Baronesse lächelte. Es war ein tapferer und strahlender Ausdruck.
Grace gab sich alle Mühe, das Lächeln zu erwidern. »Ich könnte dir ein paar einfache Übungen zeigen. Mit ihrer Hilfe könntest du deine Kraft und deine Reichweite verbessern. Nichts Drastisches, aber du könntest deinen Arm möglicherweise etwas mehr benutzen, als es jetzt der Fall ist.«
»Das wäre sehr nett von dir.«
Ein abwesender Blick trat in ihre Augen, und sie schaute aus dem Fenster. Ihre Stimme wurde zu einem Murmeln.
»In gewisser Weise haben wir etwas gemeinsam, Grace. Während meiner Geburt starb meine Mutter im Kindbett, und als die Hebamme meine … meinen Arm sah, sagte sie meinem Vater, dem Baron, ich sei ein Wechselbalg – ein Kind, das das Kleine Volk in den Schoß meiner Mutter gezaubert hätte. Ich wurde im Winter geboren, und die alte Hebamme hätte mich im Schnee ausgesetzt, damit ich dort sterbe. Doch ich war Vaters einziges Kind, und er war kein abergläubischer Mann. Er warf statt dessen die Hebamme hinaus.« Ihr Blick löste sich vom Fenster und konzentrierte sich erneut auf Grace, und sie lächelte wieder. »Also hielt man uns beide für Angehörige des Feenvolkes. Ich schätze, das macht uns auf eine gewisse Weise zu einer Art von Schwestern.«
Grace konnte sie nur voller Trauer anstarren. Wie oft hatte sie versucht, ein Baby wiederzubeleben, das man aus einem kalten Müllcontainer geholt hatte? Vielleicht unterschied sich diese Welt doch nicht so sehr von der Erde.
Es klopfte laut an der Tür. Grace und Aryn wechselten einen Blick, dann erhob sich die Baronesse, um den Besucher zu empfangen. Die Tür öffnete sich und zeigte einen stämmigen Mann mit einem Kettenhemd und einem schwarzen Umhang. Grace stand ebenfalls auf.
Der Wächter verbeugte sich, räusperte sich und sprach mit lauter Stimme. »Ich überbringe eine Botschaft von Seiner Majestät, König Boreas von Calavere. Der König ersucht respektvoll um den Besuch der Lady Grace von Beckett in seinen Gemächern. Sofort.«
Grace sah Aryn entsetzt an. Die Baronesse stand mit offenem Mund da.
»Sagtest du nicht, der König sei zu beschäftigt, um seine Gäste zu begrüßen?« stieß Grace atemlos hervor.
»Das ist er auch.« Aryn betrachtete Grace ehrfürchtig. »Es sei denn, daß die Gäste, wie bereits gesagt, von ungewöhnlicher Wichtigkeit sind.«
Grace legte eine Hand auf die Brust und versuchte zu atmen.
36
Grace eilte hinter Aryn den von Fackeln beleuchteten Korridor entlang, während der Wächter hinter ihnen hermarschierte.
Im Schlafgemach hatte sich die Baronesse mit der Zunge schnalzend die Dienstbotenaufmachung betrachtet, die Grace angezogen hatte.
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