Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
die Kehle. Das Atmen fiel ihr schwer. Die Luft im Großen Saal war stickig. Melias Diener stand direkt hinter der Lady. »Entschuldigung«, sagte sie, »kannst du mir einen Becher Wein bringen?«
Er starrte sie an, als hätte sie ihn gerade gebeten, vom höchsten Turm des Schlosses zu springen.
»Was?« fragte er.
Grace war von seinem Benehmen überrascht. Keiner der Diener Schloß Calaveres würde sich trauen, derart unhöflich zu sein. »Wein«, sagte sie. »Er steht da drüben auf dem Tisch. Könntest du mir einen Becher bringen? Bitte.«
Der Mann verzog das Gesicht. »Ich bin doch kein Diener.«
Nun richtete Melia den Blick auf ihn. »Warum bist du dann nicht einfach ein Gentleman, Travis?«
Der dunkelblonde Mann starrte Melia an, wollte etwas sagen, überlegte es sich dann aber offenbar anders. Er drehte sich um, um den Wein zu holen, wobei er sich Zeit ließ und vor sich hin murmelte.
Grace stöhnte innerlich auf. Schon wieder hatte sie sich in jemandem getäuscht, und es hatte katastrophale Folgen gehabt. Es folgte ein langes und betretenes Schweigen. Schließlich bemühte Aryn sich tapfer um ein Lächeln.
»Willkommen auf Calavere«, sagte sie.
4
»Du kannst sie da drüben absetzen, Travis«, sagte Melia. Travis ließ die schweren Satteltaschen auf den Boden des Gemachs fallen. Als er sich aufrichtete, machte sein Rücken ein beunruhigendes Geräusch, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einem besonders lebhaften Pferd hatte, das durch ein Kristallfeld stolzierte.
Falken betrachtete die Satteltaschen stirnrunzelnd. »Hast du etwas zerbrochen, Travis?«
»Nicht da drin«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Auf Melias Bitte hin hatte er die Satteltaschen aus dem Stall geholt, einen langen Korridor entlang- und dann eine Wendeltreppe hinaufgetragen, die ihn so oft im Kreis gedreht hatte, daß er sich danach wie nach der Fahrt auf einem Kirmeskarussell gefühlt hatte.
»Und vergiß nicht die vier Taschen, die du am Fuß der Treppe zurückgelassen hast«, sagte Melia freundlich.
»Ihr bestraft mich, stimmt’s?« fragte Travis verletzt.
»Ja, mein Bester, aber nur, weil ich dich so gut leiden kann.«
Travis ging stöhnend zur Tür. Es war doch nicht seine Schuld, daß die Frau im Großen Saal so unverschämt gewesen war. Es hätte ihm ja nichts ausgemacht, ihr den Wein zu holen, aber die Art, wie sie ihn angesehen hatte. Wie einen Gegenstand, nicht wie eine Person. Selbst die schlimmsten Touristen im Mine Shaft Saloon hatten nicht so mit ihm gesprochen.
Beltan kam in den Raum geschlendert. Er trug in jeder Hand zwei Satteltaschen. Er schwang sie mit Leichtigkeit auf eine Kommode, dann blickte er sich um.
»War das alles?« Er klopfte seine Hände ab. »Das war ja überhaupt nicht schwer.«
Travis starrte den Ritter an. Manchmal konnte er Beltan ein kleines bißchen weniger gut leiden als sonst. Er war trotzdem froh, die Treppe nicht noch einmal herunter zu müssen. Es war ihm früher schon nicht möglich gewesen, zweimal hintereinander aufs Karussell zu gehen, ohne daß ihm die Zuckerwatte wieder hoch kam.
»Und, Melia«, Falken stellte den Kasten mit seiner Laute auf das Fensterbrett, »was hältst du von der Gastfreundschaft des Königs von Calavan?«
Melia drehte eine Runde durch das Zimmer, wobei ihr Überrock über den rauhen Teppich auf dem Boden strich. Das Gemach, zu dem sie der Seneschall des Königs geführt hatte, war groß genug für sie alle. An den Wänden hingen Wandteppiche, deren Farben vom Rauch und von der Zeit getrübt waren und die zusammen mit dem Feuer im Kamin die Kälte vertrieben. Eine Tür führte in einen kleinen Schlafraum, der Melia eine gewisse Privatsphäre gewähren würde.
»Nun, es ist nicht das größte Gemach im Schloß«, sagte Melia. Sie setzte sich in einen klobigen Roßhaarsessel am Kamin und lächelte. »Aber ich werde es überleben.«
Falken nahm die Laute aus dem Kasten und spielte einen melancholischen Akkord. »Die Welt wird dir dein Opfer hoch anrechnen, Melia.«
»Na, das will ich doch sehr hoffen.«
Travis faltete seinen Umhang zusammen und legte ihn auf eins der beiden schmalen Betten, auf denen er und Falken schlafen sollten, dann setzte er sich hin. Flüssiges Sonnenlicht strömte durch das Fenster des Gemachs. Das wellige Glas gab die Sicht auf fünf Türme frei, die sich scharf gegen den Himmel abzeichneten, aber Travis wußte, daß das nur die Hälfte dessen war, was Calavere zu bieten hatte. Als sie auf das Schloß zugeritten
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