Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
nicht bis hier unten – das tat nur der blauweiße Schimmer des verbrauchten Lichts, das von oben widergespiegelt wurde. Durge sah sie erst, als sich seine Augen von dem grellen Licht an das Zwielicht gewöhnt hatten: Eine graue Frau, die ein Kind hielt, kam langsam auf sie zu.
Durge stolperte, und er war fest davon überzeugt, dass sein Herz stehen geblieben war. Wie konnten sie in dieser heißen, fremden Stadt sein, so weit entfernt von den vereisten Ebenen Embarrs?
»Durge?«
Eine Hand hatte sein Handgelenk ergriffen. Er wusste, dass es sich nur um die Wärme menschlichen Fleisches handelte, aber ihm kam es so vor, als wäre es ein Brandeisen.
»Durge, alles in Ordnung?«
Das war Lirith. Er sah sie an, und sie musste die Furcht in seinem Blick gesehen haben, denn sie riss die Hand zurück, während nun in ihren Augen Entsetzen aufstieg. Aber seine Angst hatte nichts mit ihr und ihrer Hexenberührung zu tun. Er schaute wieder auf die Straße.
Das Eis in seiner Brust schmolz, sein Herz schlug wieder, seine Lungen atmeten.
Die Frau und das Kind waren jetzt näher herangekommen, nahe genug, dass er erkennen konnte, dass es sich keineswegs um Geister handelte. Die Frau trug ein Gewand aus hauchdünnem Stoff, das sie umgab wie Nebelschwaden, und die Haut unter der Asche auf ihren Wangen und der Stirn war dunkel. Der in ein Tuch gehüllte Säugling war genauso dunkel wie sie, das kleine Gesicht war ebenfalls mit Asche gezeichnet. Die Frau beugte den Kopf über ihr Kind und summte ein leises Lied, während sie vorbeiging.
Mir geht es gut, Mylady, wollte Durge sagen, aber in diesem Augenblick ging Melia auf die Frau in Grau zu.
»Ich erkenne Euer Gewand nicht«, sagte sie in sanftem Ton. »Darf ich fragen, welchem Kult Ihr angehört?«
Die Frau schaute von dem Säugling auf und lächelte. »Es ist nicht verwunderlich, dass Ihr meine Robe nicht kennt, Frau. Der Kult, dem ich anhänge, ist neu in der Stadt. Es ist der von Tira, die man das Kind des Feuers nennt.«
Durge hörte, wie sowohl Lirith als auch Aryn nach Luft schnappten. Selbst er fühlte tief im Inneren einen Stich, und wäre es nicht schon so viele Jahre her gewesen, dass er zu solchen Gefühlen fähig gewesen war, hätte er es für Freude gehalten. Er hatte es sich zur Regel gemacht, nicht viel Vertrauen in Götter zu setzen, andererseits war er nur selten mit einer Göttin gereist. Und das Mädchen Tira hatte etwas an sich gehabt, einen inneren Frieden, der zugleich seltsam, aber unwiderstehlich gewesen war.
»Aber natürlich«, murmelte Melia. »Ich hätte es wissen müssen.«
Die Frau in Grau missverstand die Antwort. »Macht Euch keine Vorwürfe, dass Ihr das nicht gewusst habt, gute Frau. Doch ich glaube, dass Sie in dieser Stadt bald weithin bekannt sein wird, und dann werden sie Ihr folgen. Denn Sie begab sich in die Flammen, damit wir alle verwandelt werden können.«
Melias Blick wurde schmal. »Verwandelt? In was?«
»Nun ja, in uns selbst.«
Die Frau drückte das Kind an die Brust und ging weiter, und ihre graue Kleidung verschmolz mit dem kühlen Zwielicht. Sie waren keine Geister. Doch Durge hatte in diesen letzten Wochen gelernt, dass man keine Geister sehen musste, um verfolgt zu werden. Er fragte sich, ob er Embarr jemals wieder sehen würde.
Ein tiefer Seufzer entschlüpfte ihm, und er war im Nachhinein froh, dass die anderen es nicht mitbekommen hatten, da sich ihre Aufmerksamkeit auf Melia konzentrierte. Die Lady ging weiter, Falken an ihrer Seite, und obwohl Trauer sie noch immer wie ein Schleier zu umgeben schien, hatte es den Anschein, als würde ein winziges Lächeln ihre Mundwinkel umspielen.
»Es ist Tira«, flüsterte Aryn mit leuchtenden Augen. »Sie ist tatsächlich eine Göttin geworden.«
Lirith nickte. »Ich habe mich gefragt, ob das geschehen würde, ob sich ein Mysterienkult um sie bilden würde. Doch ich hätte nie geglaubt, dass es so schnell geschehen würde. Seht ihr, wie sich Melias Stimmung gehoben hat? Götter wurden getötet, aber hier wurde eine neue Göttin geboren.«
Durge hatte nicht die geringste Ahnung, wie Götter und Göttinnen funktionierten. Wenn er eine Substanz nicht in einem Schmelztiegel erhitzen oder in ein Säurebad werfen konnte, um ihre Eigenschaften zu ergründen, dann ging sie über sein Begriffsvermögen hinaus. Trotzdem machten ihm Liriths Worte Mut, ohne dass er den Grund dafür benennen konnte.
Das Haus der Neun Springbrunnen befand sich auf der Ostseite der Stadt, nicht weit
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