Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
»Was ist, Lirith? Etwas stimmt doch nicht, etwas, das du uns nicht erzählt hast.«
Schließlich drehte sich Lirith wieder um; ihre dunklen Augen blickten grimmig. »Ich bin auf dem Rückweg angegriffen worden.«
Sie hörten mit wachsendem Entsetzen zu, als Lirith berichtete, wie ein Mann in einem schwarzen Gewand – ein Mann, den sie beim Verlassen der Schicksalsläufer flüchtig gesehen hatte – ein Messer nach ihr geworfen hatte, bevor er die Flucht ergriff.
»Ich weiß nicht, warum er fortgelaufen ist«, sagte Lirith und schaute auf ihre Hände. »Er wollte mich töten, da gibt es keinen Zweifel, aber aus irgendeinem Grund floh er, bevor er das zweite Messer schleudern konnte.«
Aryn kniete neben ihr nieder und legte ihre gute Hand auf Liriths.
Melia ging zu ihnen hin; ihr Gesichtsausdruck war ernst. »Habt Ihr … nichts gespürt, meine Liebe?«
Lirith seufzte. »Ich habe eine andere Wesenheit gespürt, aber ich konnte mir nicht sicher sein. Ihr müsst wissen, da war … da war noch etwas anderes, das ich unmittelbar vor dem Angriff in der Weltenkraft gesehen habe.«
Aryn fühlte, wie Liriths Haut feucht und klamm wurde.
»Schwester, was ist denn?«, stieß sie hervor.
Lirith schaute auf. Ein heimgesuchter Ausdruck trat in ihre Augen, und Melia nickte.
»Ihr habt es wieder gesehen, nicht wahr?«, sagte sie.
Aryn griff fester zu. »Wovon spricht sie, Lirith? Was hast du gesehen?«
Lirith fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, dann sagte sie Worte, die Aryns Atem stocken ließen.
»Ich habe ein Knäuel gesehen. Ein Knäuel im Gespinst der Weltenkraft.«
41
Zwei Tage später erwachte Durge in einem kühlen, silbrigen Licht.
Zuerst konnte er nicht sagen, ob es spät oder früh war. In dieser Stadt schien es nie richtig dunkel zu werden, selbst in der Tiefe der Nacht reflektierten die weißen Gebäude das Licht des Mondes und der Sterne und der zahllosen Fackeln und verliehen der Luft einen bleichen Schimmer, der so ganz anders als die tintenschwarzen, undurchdringlichen Nächte in den Domänen waren. Durge gefiel das unheimliche Stadtlicht nicht; es ließ ihn an Geister denken.
Aber hier gibt es keine Geister, Durge von Steinspalter. Es gibt sie nirgendwo außer unter der harten Erde von Embarr, davon abgesehen liegen sie über einen Meter tief begraben.
Doch wenn dem so war, warum hatte er sie dann auf Ar-Tolor so deutlich sehen können? Maere und die kleine Durnem, genau wie er sie in Erinnerung hatte, nur ohne jedes Leben, ganz bleich. Und so traurig; er konnte sich nicht erinnern, sie jemals so traurig gesehen zu haben, nicht einmal, als er ihr gesagt hatte, dass der König ihm den Befehl gegeben hatte, an der nördlichen Grenze auf Patrouille zu gehen, dass er den ganzen Sommer und den Herbst weg sein würde – aber nicht länger – und dass er mit dem ersten Schnee zu ihr zurückkehren würde.
Versprich mir eines, hatte sie gesagt und seine Wangen zwischen die Hände genommen. Alle Ritter des Königs sind so ernst, als wäre der Preis für ihre Schwerter ihr Lächeln gewesen. Versprich mir, dass du bei deiner Rückkehr nicht genauso düster wie sie sein wirst.
Es war wie eine seltsame Bitte erschienen, aber er hatte ihr niemals etwas abgeschlagen.
Ich schwöre es bei meinem Herzen, Maere.
Doch er war nicht mit dem ersten Schnee zurückgekehrt. Eine große Bande Tiermänner war bei Einbruch des Winters nach Süden gekommen. Falken Schwarzhand hatte Embarrs König gewarnt, bei dieser Gelegenheit hatte Durge den uralten Barden kennen gelernt. Durges Patrouille hatte den Auftrag erhalten, die Tiermänner zurück nach Norden zu treiben. Und so war er erst am Tag der Wintersonnenwende zu seinem Herrenhaus in Steinspalter zurückgekehrt. Und zwei Gräber hatten ihn erwartet, ein großes und ein kleines.
Sie seien gesegnet, hatte Yirga, die Frau des Vogts, in Antwort auf sein betäubtes Schweigen gesagt. Das Fieber hat sie beide geholt. Ich glaube, die Götter wollten nicht, dass Mutter und Kind getrennt werden. Es ist eine Gnade, das ist es. Oh, sie seien gesegnet, sie seien gesegnet.
Durge hatte nichts darauf erwidert, aber ihm war klar gewesen, dass sich Yirga irrte, dass die Götter keine Gnade kannten. Er hatte neben ihren Gräbern gekniet, während dicke Schneeflocken zu Boden fielen, und er hatte das letzte Mal in seinem Leben geweint. Er hatte lange und bitterlich geweint, mit seinen bloßen Fäusten auf den gefrorenen Boden eingedroschen, bis sie blutig waren, so als
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