Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
hatten, die vorhin an ihnen vorbeigegangen waren. Aber warum trug der schluchzende Junge eine von ihnen? Der Kleine sah sich mit weit aufgerissenen, staunenden Augen um, dann strömten die Tränen wieder.
Da war etwas Seltsames an dem Kind und seinem viel zu großen Gewand. Durge setzte sich in seine Richtung in Bewegung.
»Durge!«, rief eine Stimme hinter ihm. »Kommt schon!«
Er riss den Kopf herum. Es war Aryn. Die anderen waren schon ein ordentliches Stück weiter. Sie machte ihm ein Zeichen, sich zu beeilen.
Durge sah zurück. Eine Frau war auf den Jungen zugetreten und sprach beruhigend auf ihn ein, zweifellos fragte sie ihn, ob er wusste, in welcher Straße er wohnte. Zufrieden eilte Durge hinter den anderen her.
Doch es dauerte eine Zeit lang, bis er das Geschrei des Kindes nicht mehr hörte.
42
Die ersten Sonnenstrahlen krochen gerade über die Mauer des Ersten Kreises, als sie zwischen zwei gewaltigen Marmorsäulen die Etherion betraten.
Sie durchquerten eine breite Eingangshalle. Dann wichen die Wände zu beiden Seiten zurück, und Durge kam stolpernd zum Stehen und griff Halt suchend nach einem steinernen Geländer. Die Ingenieure von Embarr mochten geschickt sein, aber sie hätten niemals etwas Vergleichbares zu dem erbauen können, was sich vor ihm ausstreckte.
Der Raum unterhalb der Kuppel der Etherion war gewaltig – er war sogar so gewaltig, dass ein ganzes Schloss hier hereingepasst hätte und noch Platz übrig geblieben wäre. Von der Stelle, an der sie standen, bis zur gegenüberliegenden Seite war es so weit, dass die in der Luft befindliche Feuchtigkeit als feiner Dunst sichtbar war. Über ihren Köpfen ragte die Kuppel in die Höhe, sie war hier drinnen genauso blau wie an der Außenseite, sodass sie den Anschein erweckte, als würde man in den Himmel blicken. In der Nähe der Kuppelbasis hatte man runde Fenster in die Mauer geschnitten, aus denen goldenes Sonnenlicht in die Tiefe strömte. Vögel flatterten kreuz und quer durch die luftigen Höhen.
Die Etherion bildete einen großen Kreis, ihre Wände wurden von Säulengängen aus rotgeädertem Marmor gesäumt. Durge zählte sieben säulengetragene Etagen, und zwischen zwei Säulen befand sich stets eine Art Loge, in der sich Zuschauer versammeln konnten. Die Logen in den unteren Etagen waren klein und eng und boten nur Stehplätze, während die höher gelegenen groß und luftig waren; hier gab es Liegen, auf denen sich Priester oder Priesterinnen niederlassen konnten, während sie die Vorgänge verfolgten. Offensichtlich wurde in der Etherion höher mit wichtiger gleichgesetzt, genau wie in Tarras auch.
»Seht euch Durge an«, sagte Aryn mit einem Lächeln. »Ein Vogel könnte in seinen Mund fliegen. Ich glaube, er ist vor Ehrfurcht erstarrt.«
Falken lachte. »Ich glaube eher, er versucht herauszufinden, wie die tarrasischen Ingenieure diesen Ort erbauen konnten.«
»Ich schätze, sie hatten Hilfe dabei«, sagte Lirith und schaute bezeichnend auf Melia.
»Kommt«, sagte Melia, »dort entlang geht es zu meiner Loge.«
Durge schaffte es, seine Aufmerksamkeit von dem Wunder der Etherion fortzureißen. »Eure Loge, Melia?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Nun, ich schätze, ich müsste sie mir mit Tome teilen, falls er hier wäre. Schließlich wurde sie für die Neun reserviert. Obwohl, es war immer ganz schön eng, wenn wir alle kamen.«
Melias Loge befand sich auf der sechsten Etage – nur eine unter der höchsten – genau gegenüber dem großen Torbogen, der als Ein- und Ausgang für die Kuppel diente. Die Loge war groß und mit bequemen Stühlen und Tischen aus poliertem Holz ausgestattet. Doch alles war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Wie lange war es her, dass Melia in Tarras gewesen war? Doch bevor Durge fragen konnte, machte die kleine Frau eine Geste mit der Hand, und der Staub war verschwunden. Hatte er sich das nur eingebildet?
Da er es für besser hielt, sich die Fragen zu verkneifen, nahm Durge mit den anderen Platz, allerdings wählte er sich einen Sitzplatz in der Nähe der Logentür aus statt an der Brüstung des Balkons, von dem aus man in die Etherion sehen konnte. Er wollte nicht überrascht werden, falls jemand eintrat.
Nach wenigen Augenblicken trat jemand ein: Ein Diener brachte einen Krug Wein und fünf Becher. Ein weiterer Diener brachte eine Schale mit hellgrünen Früchten, die Durge nicht kannte.
»Melia«, sagte Aryn, »werdet Ihr zur Etherion sprechen?«
»Das glaube ich kaum, meine
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