Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
zurücklassen mussten? Der Gedanke betrübte ihn. Wer war er, dass er sich vor Geistern fürchtete?
»Meine Allerliebste«, sagte Orsith, und ein Lächeln erhellte sein Gesicht. »Ich dachte, ich hätte Euch in der Etherion gesehen, aber ich muss zugeben, dass meine Augen nicht mehr das sind, was sie einmal waren. Ich sehe nur noch Mandu ganz klar. Und den guten, verlässlichen Landus hier, da er meine Seite nie verlässt. Er wird eines Tages einen guten Priester Mandus abgeben.«
Der junge Akoluth neigte den Kopf, aber sein Lächeln war deutlich zu sehen.
»Ich wollte Euch fragen, was Ihr von der heutigen Sitzung gehalten habt«, sagte Melia. »Ich fürchte, sie war nicht so erhellend, wie ich gehofft hatte.«
»Und doch dürft Ihr die Hoffnung nicht aufgeben«, sagte Orsith. »Denn das ist alles, was wir am Ende haben werden.«
Melia wollte etwas erwidern, aber was es war, sollte Durge niemals erfahren, denn in diesem Augenblick hallte ein lauter Donnerschlag durch den Korridor. Und dann noch einer und noch ein dritter. Aber es konnte kein Donner sein, nicht hier in einem Gebäude, ganz egal wie groß es auch sein mochte. Und der Laut klang auf seltsame Weise scharf.
Schreie gellten durch den Korridor, Leute kamen aus der Richtung des Donners angerannt, die Roben hoch über die Knöchel gerafft. Durge wechselte mit seinen Gefährten einen Blick, dann liefen sie los, entgegen dem Strom flüchtender Priester und Priesterinnen, und ließen Orsith und Landus zurück.
Der Korridor beschrieb einen Bogen nach links, da er der Kreisform der Etherion folgte. Durge kämpfte sich an einem Knäuel aus Priestern in orangefarbenen Roben vorbei, die bei ihrer wilden Flucht übereinander gestolpert waren. Dann kam er zum Halt, die anderen neben ihm.
Drei Gestalten lagen hingestreckt auf dem weißen Marmorboden des Korridors. Blut rann unter ihren Körpern hervor, so scharlachrot wie ihre Roben. Einer von ihnen starrte in die Höhe, ein korpulenter Mann, dessen Augen hervorquollen und dessen Gesicht eine tote Maske des Erstaunens war. Durge erkannte ihn; es war der Priester von Vathris Stier-Töter, der früher am Morgen zur Etherion gesprochen hatte. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, waren die anderen beiden ebenfalls Priester des Kriegergottes. Sie alle waren ermordet worden. Falken ging zu den Toten, Durge schloss sich ihm an. Stinkender Rauch hing in der Luft.
Durge und Falken knieten nieder, um einen der Priester zu untersuchen. Die Robe des Mannes wies einen kleinen Riss auf. Falken riss das Kleidungsstück ganz auf. Das Loch befand sich nicht nur im Stoff. In der Mitte der Brust des Mannes klaffte ein einziger kleiner, roter Krater, aus dem das Blut geströmt war. Durge fand, dass das Loch Ähnlichkeit mit einer Pfeilwunde hatte. Doch es gab keinen Hinweis darauf, was den Priester durchbohrt hatte.
Falken stand mit blutverschmierten Händen auf. »Ich verstehe das nicht. Was für eine Art von Magie könnte so etwas anrichten?«
Durge wusste es nicht, aber als er neben dem toten Priester kniete, wurde ihm klar, dass sie heute doch etwas in Erfahrung gebracht hatten.
Nicht einmal die Etherion war sicher.
43
Lirith bahnte sich einen Weg durch die dicht bevölkerten, staubigen Straßen des Fünften Kreises, vorbei an zahllosen Kaufleuten, die Silberringe, Teppiche, reife Früchte, Schleier und gebratenes Fleisch verkauften. Das war der äußerste Kreis von Tarras, wo die Armen, Vergessenen und Außenseiter hausten. Sie schloss erneut die Augen und warf einen Faden in das schimmernde Netz der Weltenkraft.
Wo seid ihr, Schwestern? Ihr müsst hier sein – es kann nicht anders sein. Zeigt mir, wie ich euch finden kann.
Doch die einzige Antwort war Schweigen und das leise Summen des Lebens, das unablässig durch die Weltenkraft kreiste.
Sie öffnete die Augen und sah einen alten Mann, der auf der Straße auf einem Teppich saß und Mysterien aus Holz verkaufte. Es handelte sich dabei um winzige Idole, Abbildungen der Neuen Götter, die ein Anhänger einer der Mysterienkulte in der Tasche oder in ein Tuch eingewickelt mit sich trug. Lirith erkannte ein paar von ihnen: ein grobschlächtiger Holzstier mit einer Nadel in der Seite für Vathris Stier-Töter, ein Mann mit einem Pferdekopf für Jorus Sturmläufer. Da waren noch andere, die sie nicht kannte: eine Göttin mit vier Armen und einem gütigen, aufgemalten Lächeln; ein Gott mit schneeweißen Flügeln, die aus seinen Schultern ragten, und ein Gott mit den Beinen
Weitere Kostenlose Bücher