Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
etwas, das in dem Dämmerlicht jenseits der goldenen Spinnen lauerte. Es war riesig, sein furchtbar massiger Körper ließ das Netz, das sie alle hielt, sich nach unten durchbiegen. Es starrte sie aus den Schatten an mit Augen, die wie schwarze Abgründe waren, während Sabber aus seinem offenen Rachen tropfte. Es war hungrig, dieses Ding, so schrecklich hungrig, und Lirith wusste mit absoluter Gewissheit, dass egal, was es auch verschlang, es, niemals gesättigt sein würde. Sie wollte noch einmal schreien, aber diesmal drangen klebrige Netzfetzen in ihren Mund und erstickten sie.
Dann verspürte sie die ersten schmerzhaften Bisse.
10
Lirith schoss in ihrem Bett hoch und hielt sich den Hals. Atme, Schwester. Es war nur ein Traum, weiter nichts.
Mit einer bewussten Anstrengung zwang sie ihre Lungen zur Arbeit, sog mit stockenden Atemzügen Luft in ihren Körper und stieß sie wieder aus. Sie griff unter das Nachthemd und zog die Bronzespinne hervor, die an einem Riemen um ihren Hals hing. Sie starrte das Amulett der Mournisch an; es lag still und reglos auf ihrer Hand.
Lirith schlüpfte aus dem Bett und fröstelte, als der Traumschweiß auf ihrer Haut trocknete. Das Fenster des Gemachs leuchtete mit einem farblosen Licht. Der Tag war noch nicht angebrochen, aber sie wusste, dass nach diesem Traum ein Schlaf unmöglich war. Er war furchtbar gewesen. Obwohl, in gewisser Weise war er auch besser als die anderen Träume, die sie gehabt hatte. Die Träume von der Vergangenheit, die Träume vom Tanzen.
Aber was hatte das alles zu bedeuten? Sie war nicht anfällig für Albträume gewesen. Warum hatte sie in letzter Zeit nur so viele?
Eines ist sicher, Schwester. Keinen Maddok mehr vorm Schlafengehen.
Oder ging da etwas anderes vor? Seit dem Morgen nach dem Besuch bei den Mournisch hatte sie den brodelnden Knoten in der Weltenkraft nicht mehr gesehen. Vielleicht hatte sie sich ihn auch nur eingebildet. Sie hatte die Ohren gespitzt, aber keine der im Schloss wohnenden Hexen hatte erwähnt, etwas Derartiges gesehen zu haben.
Aber sie hatte es sich nicht eingebildet. Sie konnte noch immer den Ekel spüren, der sie beim Anblick dieser Abscheulichkeit erfüllt hatte. Aller Maddok der Welt reichte nicht aus, um so etwas hervorzurufen. Sie wünschte sich, Grace Beckett wäre hier; aus irgendeinem Grund wusste Lirith, dass ihre Freundin sie verstanden hätte. Vielleicht würde es ihr ja leichter fallen, den wirren Knoten in der Weltenkraft wieder zu finden, wenn sie ihn noch einmal sah, und dann würde sie ihn anderen zeigen können. Vielleicht Tressa oder Ivalaine.
Lirith zögerte, aber dann schloss sie die Augen, bevor sie der Mut verlassen konnte, und griff mit der Gabe zu. Ein lautes Klopfen ließ die Luft erzittern. Lirith zuckte zusammen, die leuchtenden Fäden schlüpften ihr aus den imaginären Fingern, und sie riss die Augen auf. Diesmal dachte sie daran, sich einen Morgenmantel über das Nachthemd zu ziehen, bevor sie zur Tür ging. Doch jetzt stand dort kein Wachsoldat.
»Schwester Lirith«, sagte das Mädchen mit ernster und lächelnder Stimme, »Lady Tressa möchte Euch sehen.«
Das Mädchen konnte nicht älter als zwölf Winter sein. Eine Novizin also; sie würde die Weltenkraft erst nach ihrer ersten Blutung sehen können. Manchmal beneidete Lirith die Jungen, die vom ersten möglichen Augenblick an lernen würden, die Gabe zu benutzen. Als sie zwölf Winter alt gewesen war, hatte sie nicht einmal gewusst, dass es Hexen gab.
Sulath verfluche dich, kleines Vögelchen. Hättest du nicht noch ein Jahr warten können? Nun wirst du heute Abend nicht arbeiten können, und vermutlich morgen auch nicht.
Es tut mir Leid, Gulthas.
Es tut ihr Leid! Dem kleinen Vögelchen tut es Leid! Nun, davon füllen sich meine Taschen aber nicht. Und jetzt hör zu, kleines Vögelchen. Von jetzt an musst du auf dich aufpassen. In meinem Haus werden keine Bastarde gemacht – das verspreche ich allen meinen Lords. Minya wird dir zeigen, wie man diese Sauerei wegmacht und wie man verhindert, dass was anderes in dir seine Wurzeln schlägt. Sie ist zu alt und wertlos, um etwas anderes zu tun.
»Schwester Lirith?«
Die Schatten verschwanden, der Raum nahm wieder Konturen an. Unbewusst drückte Lirith eine Hand auf den Leib, als könnte sie noch immer die Wärme der Funken spüren, die es dort gegeben hatte, und sei es auch nur für kurze Zeit.
»Ich komme sofort.«
Minuten später eilte sie, in ihr braunes Lieblingsgewand
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