Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
Er bewegte sich mit einer katzenhaften Anmut, lehnte sich auf die steinerne Fensterbank und schaute durch das Glas in die helle, dahinter liegende Welt. Lirith fiel nichts anderes ein, als die Erlaubnis zum Gehen zu erbitten. Sie trat einen Schritt vor – und war von sich selbst überrascht, als ihre Lippen eine ganz andere Frage formten.
»Warum seid Ihr in Lady Tressas Gemach, Mylord?«
Er kehrte ihr auch weiterhin den Rücken zu. »Seid Ihr dumm? Ich wurde natürlich bestraft. Es ist ja nicht so, als würden sie aus einem anderen Grund mit mir reden.«
Lirith ignorierte die Beleidigung. »Weswegen hat man Euch denn bestraft?«
Er drehte sich um, und die grünen Augen unter den dünnen schwarzen Brauen blickten durchbohrend. Sie schienen sich über der Nase beinahe zu berühren, was sie aber eher interessant als reizlos aussehen ließ.
»Ihr kennt nur Fragen, nicht wahr, Schwester? Warum sollte Euch das interessieren?«
Lirith schwieg; sie wusste, dass er es ihr sagen würde, wenn sie abwartete. Es dauerte nicht lange.
»Ich wurde bestraft, weil ich auf dem Burghof einem Brothändler Brot gestohlen habe.« Seine Stimme klang trotzig, obwohl er die Schultern krümmte.
»Warum habt Ihr Brot gestohlen? Gibt Euch Ivalaine denn nicht alles Brot, das Ihr haben wollt?«
Teravian ballte die Hände zu Fäusten. »Ihr seid genauso wie sie alle! Ihr glaubt eher einem miesen kleinen Bauern, als Ihr mir glaubt. Aber mir ist egal, was Ihr denkt. Ich habe es nicht getan – ich habe sein scheußliches Brot nicht gestohlen.«
»Ich glaube Euch.«
Teravian öffnete den Mund, dann schloss er ihn wieder, als hätte er erst jetzt gehört, was sie gesagt hatte. Er kniff die Augen zusammen.
»Warum glaubt Ihr mir?«
»Habt Ihr gelogen?«
»Nein. Ich habe Euch gesagt, dass ich es nicht war.«
»Darum glaube ich Euch.«
Statt zu antworten, warf sich Teravian wieder auf die Kissenstatt. Er nahm eines, spielte mit den Troddeln am Rand, sah sie aber nicht an.
»Ich bin sicher, dass Ihr jetzt gehen dürft«, meinte Lirith.
»Nein, ich kann nicht. Tressa hat mich nicht entlassen. Sie wollte gerade mit dem Brotverkäufer anfangen, als sie das mit irgendeiner dämlichen Jungfrau erfuhr, die es mit ein paar Gardisten getrieben hat. Für mich hört sich das an, als hätte sich die Jungfrau bloß ein bisschen amüsieren wollen. Aber in diesem Schloss ist das wohl ein Verbrechen. Die Nachricht hat Tressa aufgeregt, und sie hat mich vergessen. Mich vergisst man immer.«
Lirith hob eine Braue. »Was glaubt Ihr, warum ist das so?«
Teravian schien darüber nachzudenken, dann schaute er zu ihr hoch. »Vergessen die Menschen nicht immer die Dinge, die sie nicht mögen?«
Lirith presste die Lippen zusammen. Wie konnte sie die Wahrheit verleugnen? Sie kannte den Grund nicht – er war zweifellos ein egozentrischer, kindischer junger Mann –, aber sie verspürte das Bedürfnis, ihn zu trösten. Vielleicht lag es auch daran, dass er sie ein kleines bisschen an Daynen erinnerte: ein dürrer Junge, der sich in der Welt der Schatten verloren hatte.
»Ihr irrt Euch«, sagte er, bevor sie sprechen konnte. »Mit Ivalaine zu sprechen wird es nicht besser machen. Sie wird mir auch nicht glauben.«
Lirith erstarrte. »Woher wisst Ihr, was ich sagen wollte?«
Das waren die ersten Worte, die sie gesagt hatte, die ihn wirklich zu berühren schienen. Er blinzelte. »Ich weiß nicht. Ich schätze … Manchmal weiß ich einfach Dinge.«
Lirith musterte ihn. Wäre er eine Frau gewesen, hätte sie ihn der Prüfung unterzogen. Aber er war ein Mann – es konnte nicht sein. Doch ihr war bekannt, dass es gelegentlich auch Männer gab, die einen flüchtigen Funken Talent besaßen.
Er runzelte die Stirn. »Hört auf, mich so anzustarren.«
»Wie denn?«
»Unerbittlich und voller Fragen. Sie sieht mich immer so an, als wäre ich etwas, das sie in einem Glas aufbewahrt.«
»Wen meint Ihr?«
Teravian stand auf. »Kann ich jetzt gehen? Wenn Ihr es mir erlaubt, kann ich Euch die Schuld geben, falls Tressa böse auf mich wird.«
Lirith trat einen Schritt zurück, dann nickte sie. »Ihr dürft gehen.«
Er schob sich an ihr vorbei und ging, ohne ihr auch nur noch einen Blick zu schenken. Lirith wollte sich umdrehen, um sich wenigstens von ihm zu verabschieden, aber darin erstarrte sie, als ihr etwas ins Auge fiel.
Es war das Kissen, mit dem Teravian unbewusst herumgespielt hatte. Irgendwie musste er einen der Säume gelöst haben, denn Garn quoll
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