Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
als das Fahrzeug weiterfuhr …
… aber dann stockte ihr der Atem, als es langsamer wurde und anhielt. Sie konnte durch die ziemlich dunkle, rechteckige Rückscheibe beobachten, wie der Fahrer über die Schulter sah. Ihre Blicke trafen sich kurz. Der Rückwärtsgang leuchtete auf, ihr Herz übersprang einen Schlag.
Sie packte Travis’ Arm. »Was sollen wir tun?«
»Ich habe keine Ahnung. Wenn wir jetzt anfangen zu rennen, könnten wir genauso gut ein großes Schild mit der Aufschrift ›Flüchtlinge unterwegs‹ hochhalten.«
Reglos sah Grace zu, wie der Wagen rückwärts heranfuhr. Was würde sie sagen, wenn man sie befragte? Sie können mich nicht festhalten, Officer. Ich bin Bürgerin einer anderen Welt. Irgendetwas sagte ihr, dass es in Denver keine Botschaft von Calavan gab.
Ein grölender Lärm ließ ihren Körper vibrieren. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, den Kopf herumzureißen, um einen Lastwagen zu sehen, der die Colfax herunterraste. Bremsen quietschten, dann wurde der Lastwagen langsamer und kam nur wenige Zentimeter vor dem Heck des Streifenwagens zum Stehen. Die Fahrertür flog auf, der stämmige Fahrer stieg mit knallrotem Gesicht aus und ging mit gestikulierenden Armen auf den Streifenwagen zu.
»Jetzt«, sagte Travis. »Solange er abgelenkt ist.«
Eine Reihe Ladenfassaden aus Backsteinen und Glas säumte den Block, eine Einkaufsmeile, die 1964 zweifellos schlank und modern ausgesehen hatte, jetzt aber nur noch platt und langweilig war, Teil eines architektonischen Experiments, das nicht nur als Fehlschlag geendet hatte, sondern auch in Hässlichkeit. Travis zog Grace auf den nächsten Eingang zu.
Glöckchen bimmelten, als sich die Tür hinter ihnen schloss, irgendwo plätscherte Wasser über Steine. Rauchschwaden trieben durch die Luft, sie schmeckten nach Moos. Über ihnen erstreckte sich ein Ast, dessen goldene Blätter im Dämmerlicht funkelten.
Unwillkürlich keuchte Grace auf. Schon einmal hatte sie einen Raum betreten, nur um entdecken zu müssen, dass es sich um einen Wald handelte. Das war auf Schloss Calavere gewesen, als sie und Travis mit Trifkin Moosbeere und seiner Schauspielertruppe gesprochen hatten. Durch die Magie des Kleinen Volkes war ihr Raum zugleich wie das Gemach eines Schlosses und eine Waldlichtung erschienen. War hier eine ähnliche Magie am Werk?
»Hallo«, sagte eine heisere Stimme. »Kann ich euch helfen?«
Rauchschwaden wirbelten, dann stand eine hoch gewachsene, schlanke, schwarze Frau vor ihnen. Aus dem eng anliegenden roten Minikleid ragten schlanke, perfekt geformte Arme und unglaublich lange Beine hervor, für die Horden von Pariser Laufstegmodels mit Begeisterung auch noch den Rest ihrer Seelen verkauft hätten, um sie zu kriegen. Weiße Plateauschuhe machten sie fast so groß wie Travis, und das aufwändig frisierte Haar, das ihren Kopf krönte, konnte nur eine Perücke sein. Sie war, in einem Wort, großartig.
»Räucherstäbchen, Kräuter? Kerzen?« Sie hob eine Hand, deren Finger in wunderbar unnatürlichen Aufklebnägeln endeten, und zeigte auf die zum Bersten gefüllten Regale. »Wenn Sie etwas Magie brauchen, sind Sie hier genau richtig. Sagen Sie Marji einfach nur, was Sie brauchen.«
Wie wäre es damit, uns von dieser Welt zu schaffen? Grace warf einen Blick durch die Eingangstür, aber das Glas war mit von der Sonne verblichenen Postern beklebt, und sie konnte den parkenden Streifenwagen nicht sehen. War er noch immer mit dem Lastwagenfahrer beschäftigt?
Sie drehte sich wieder um. »Wir brauchen … das heißt, wir möchten …« Grace fühlte, wie ihre Augen hervorquollen. War sie schon immer so eine lausige Lügnerin gewesen?
Travis rettete sie. »Kerzen«, sagte er. »Wir brauchen Kerzen.« Er zeigte auf ein Regal in der Nähe. »Die roten sehen gut aus.«
Die Frau – Marji – hob eine perfekt gezupfte Braue, dann schlenderte sie zu dem Regal. Sie nahm eine der roten Kerzen. »Die hier? Sind Sie sicher?«
»Ja, die will ich.«
Marjis rauchige Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als sie die Finger um die Kerze legte und kurz auf- und abfuhr. »Süßer, die zünden sie bei einem Ritual an, bei dem es darum geht einen Mann ihre Wünsche erfüllen zu lassen, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Travis erwiderte das Lächeln. »Ich weiß. Ich nehme fünf davon.«
Marji lachte – es war ein tiefer, kehliger Laut – und fächerte sich mit der Hand Luft zu. »Schön zu sehen, dass Sie so bescheiden sind, Süßer.
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