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Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt

Titel: Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Mark
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beobachtete Melia. Die klein gewachsene Frau tanzte auf dem roten Teppich in der Mitte des Raumes, sie stellte die Füße auf präzise Positionen, die Ringe an ihren Zehen funkelten. Sie summte eine leise, traurige Melodie, die Lirith an die Musik der Mournisch erinnerte.
    »Wie lange ist sie schon in diesem Zustand?«, wollte Lirith wissen.
    »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete der Barde leise. »Sie hat sich vor einer Stunde in ihr Zimmer zurückgezogen. Ich bin erst ein paar Minuten hier.«
    Melia drehte sich im Kreis, verneigte sich, dann begann der Kreis erneut. Es war derselbe Tanz, von dem Lirith schon einmal Zeugin geworden war, damals im Schrein von Mandu auf Schloss Ar-Tolor. Doch diesmal lag eine Dringlichkeit darin, die das letzte Mal gefehlt hatte.
    Lirith umfasste das Spinnenamulett an ihrem Hals. »Was tut sie da, Falken?«
    »Ich glaube, sie wiederholt ihr Mysterium.«
    »Ihr Mysterium?«
    »Ja, die Geschichte, wie sie zur Göttin wurde.« Der Barde löste mühsam den Blick von Melia. »Jeder der Neuen Götter hat ein Mysterium – eine Geschichte, um die sich ihr Kult dreht. So wie Vathris, der den weißen Stier tötete, worauf ein roter Blutstrom floss und sein ausgedörrtes Königreich tränkte. Oder Jorus Sturmläufer, den man zum Sterben ins Meer warf, nur dass er sich in ein Pferd verwandelte und über die Wogen zurückgaloppierte, um seine Feinde zu vernichten.«
    »Oder wie Tira«, meinte Lirith.
    Falken legte eine Hand ans Kinn. »Ja, ich schätze, da habt Ihr Recht. Wie Tira, die in den Flammen verbrannte und die mit einem Stern in den Himmel aufstieg.«
    »Aber was ist Melias Mysterium? Es ist mir unbekannt.«
    »Hört zu«, sagte der Barde.
    Erst nach seinem Vorschlag erkannte Lirith, dass Melia nicht länger nur eine Melodie summte. Stattdessen gab sie einen rhythmischen Sprechgesang von sich, der mit den Bewegungen ihrer Füße und Hände übereinstimmte.
    »… ich werde ihn nicht heiraten, Schwester. Denn letzte Nacht belauschte ich ihn, wie er trunken vom Wein vor seinen am Tisch versammelten Männern prahlte. Er war es! Er war es, der unser Volk erschlug, der ihr Blut auf dem Boden vergoss. Er war es, der uns unserer Mutter und unseres Vaters beraubte. Er war es, der unsere Brüder in Stücke riss und ihre Leichen den Geiern zum Fraß vorwarf.«
    Melias Bewegungen veränderten sich, sie wich im Kreis zurück, und ihre Stimme wurde höher und leiser, als würde da eine andere Person sprechen. Und vielleicht war es auch so.
    »Aber sein Wort ist Gesetz, Melindora. Du kannst nicht wagen, dich ihm zu verweigern, sonst wird er uns beide töten und den Rest unseres Volkes gleich mit. Er hat dich auserwählt, und du kannst nichts tun, damit er seine Entscheidung ändert – es sei denn, ein anderer Mann würde dich zur Frau machen. Aber kein Mann wird diejenige anrühren, die er auserwählt hat. Denn das wäre sein sicherer Tod.«
    Wieder veränderte sich Melias Richtung und Stimmlage.
    »Kein Mann wird mich anrühren? Nun gut, meine Schwester. Dann werde ich keinem Mann beiwohnen, und ich werde keinen Mann heiraten und kein Mann wird mich vor dem Bett dieses Mörders retten. Dort, siehst du ihn, so wunderschön und hell? Er ist schon immer mein Gefährte gewesen. Ich werde den Mond heiraten, Schwester. Ich werde einen Tanz tanzen und mich mit seinem schimmernden Licht vereinigen, und so werde ich zu seiner Frau werden.«
    Lirith schaute Melia erstaunt an. Wie konnte eine junge Frau, die von tiefem Leid erfüllt war, weil sie den Kriegsherrn heiraten sollte, der ihre Familie getötet hatte, stattdessen den Mond heiraten? Andererseits, darum nannte man es auch Mysterien. Wenn das Verlangen groß genug war, passierte manchmal auch das Unmögliche, und ein Gott oder eine Göttin wurde geboren.
    »Lirith?«, sagte eine kühle Stimme. »Falken? Was tut ihr hier? Wenn ich mich richtig erinnere, ist das mein Zimmer.«
    Melia stand mit in die Hüften gestemmten Fäusten da und runzelte die Stirn.
    Falken seufzte. »Liebes …«
    Das reichte schon. Melia blickte an sich herunter, dann wieder hinauf, und ihre bernsteinfarbenen Augen zeigten Überraschung.
    »Ich war … wieder woanders, richtig?«
    Lirith zögerte nicht. Sie lief los und riss die Frau in eine stürmische Umarmung. »Ihr wart so tapfer, Euch zu weigern, ihn zu heiraten.«
    Melia erstarrte, dann gab sie sich der Umarmung hin. »Oder dumm, meine Liebe. Und doch haben die Götter das Einsehen, Narren zu behüten. Aber das alles

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