Die letzte Rune 08 - Das Schwert von Malachor
hatte.
Boreas hatte Teravian zurück an den Hof befohlen, und das Protokoll verlangte, dass derjenige, der den Prinzen in den letzten Jahren aufgezogen hatte, ihn bei seiner Rückkehr präsentierte. Calavan war Tolorias ältester Verbündeter; es wäre eine ernste Beleidigung gewesen, hätte sich Ivalaine der Tradition verweigert. Also war die Königin gezwungen gewesen, Ar-Tolor zu verlassen. Aber wen hatte sie zurückgelassen? Mit Sicherheit Tressa, ihre Ratgeberin, denn die rothaarige Hexe war nicht nach Calavere gekommen. Gab es sonst noch jemanden? Die meisten der Hexen, die am Großen Hexenzirkel teilgenommen hatten, waren nach dem Weben des Musters sofort wieder in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Aber eben nicht alle. Und Aryn hatte das Gefühl, dass sich unter denen, die zurückgeblieben waren, mit Sicherheit auch Schwester Liendra befunden hatte. Schließlich war Brelegond in die Hände der schwarzen Ritter gefallen, also hatte sie nicht nach Hause zurückkehren können.
Was hat sie vor? Was tut Liendra auf Ar-Tolor, solange die Königin fort ist? Sie kann unmöglich Gutes im Schilde führen. Ist Ivalaine deshalb so besorgt?
Hier gab es etwas Wichtiges, das mit dem in Verbindung stand, über das sie zuvor nachgedacht hatte. Was hatte Mirda noch einmal gesagt? Bevor es Aryn wieder einfiel, öffnete Mirda eine Tür in den Oberen Burghof. Sie ging zu dem Torbogen, der den Eingang zum Schlossgarten bildete. Trotz der späten Jahreszeit hing der Geruch von grünen, lebenden Dingen in der Luft.
Aryn folgte Mirda einen Steinpfad entlang. Calaveres Garten stellte förmlich eine undurchdringliche Wildnis dar; es war ein Ort, der nicht gepflanzt, sondern vielmehr sich selbst überlassen worden war. Er hatte eine Ungezähmtheit an sich, die Aryn an den Zwielichtwald erinnerte, den Wald nördlich vom Schloss, den die meisten Menschen in Calavan als einen Ort der Schatten mieden. Natürlich war der Garten weder so groß noch so laut. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass Trifkin Moosbeere und seine Schauspielertruppe sich hier zu Hause gefühlt hätten.
Sie hatten fast den Eingang zu dem Heckenlabyrinth erreicht als Mirda stehen blieb. Die beiden Frauen standen auf einer Lichtung, die von schlanken Valsindar -Bäumen umringt wurde. Die Baumrinde leuchtete hell im Mondlicht, genau wie die Statue in der Mitte der Lichtung. Aryn hatte sie schon zahllose Male zuvor gesehen, aber noch nie im Licht des fast vollen Mondes. In dem unheimlichen Schimmer erschien die Statue beinahe lebendig.
Sie setzte sich aus zwei Figuren zusammen. Die eine war ein wilder und attraktiver Mann. Unter der Steinhaut schienen die Muskeln zu wogen, Haar und Bart kräuselten sich, da sie nach hinten gedrückt wurden, als stünde er mitten in einem Sturmwind. Die andere Figur war ein Stier, eine Bestie so stark wie der Mann, der gegen ihn kämpfte. Mit einer Hand hielt der Mann ein Horn gepackt und zwang den Schädel des Stiers zurück, so dass das Tier das Maul zu einem stummen Brüllen öffnete, in seiner anderen Hand war ein Schwert, das in die Stierkehle stach. Aus der Wunde strömte ein Schwall dunkler Flüssigkeit: kein Blut, sondern Wasser.
Aryn warf Mirda einen Blick zu. Warum hatte die Hexe sie ausgerechnet an diesen Ort geführt – zu einer Statue von Vathris Stiertöter, dem Gott des Mysterienkults der Krieger?
»An was denkt Ihr, wenn Ihr ihn anseht?«, fragte Mirda.
Aryn zog den Umhang enger um sich und betrachtete die Statue. Aus irgendeinem Grund wusste sie, dass Mirda keine oberflächliche Antwort haben wollte, sondern die Wahrheit.
»Ich finde ihn wunderschön. Und gefährlich. Wunderschön, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass ihm jemand, egal ob Mann oder Frau, auch nur etwas abschlagen könnte, wenn er danach fragt. Nicht ihre Loyalität, nicht ihren Körper und auch nicht ihr Blut. Und er ist gefährlich, weil er alles nehmen würde, es freudig nehmen würde, selbst wenn es sich bei dem Angebot um ein Leben handelt.«
Mirda kam näher. »Ja, er ist gefährlich. Seht, wie er lächelt, während er den Stier, ein lebendes Geschöpf, tötet.«
»Aber in der Geschichte heißt es, er hätte mit seinem Opfer ein sterbendes Königreich gerettet.« Ein Wolkenfetzen trieb vor den Mond und warf Schatten, und Aryn konnte sich beinahe vorstellen, wie sich die Statue im geisterhaften Licht bewegte. »Es heißt, aus dem Stierblut wurde ein gewaltiger Fluss, der einem verdorrten Land das Leben zurückbrachte.«
»Ja, so heißt
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