Die letzte Rune 08 - Das Schwert von Malachor
Gesichter, die hinausschauten. Die Dienerinnen der Königin. Zweifellos waren die jungen Frauen in der Hoffnung in Ivalaines Dienste getreten, etwas über Magie zu lernen. Falls dem so war, wurden ihre Hoffnungen für diese Nacht enttäuscht. Die Tür schloss sich, und Mirda und Aryn waren allein.
»Wo ist die Königin?«, fragte Aryn und blickte sich um.
»Reiche ich Euch nicht als Lehrerin, Schwester?«
Aryn zuckte innerlich zusammen. So hatte sie das nicht gemeint. Dann sah sie das Lächeln auf Mirdas Lippen und das Funkeln in ihren mandelförmigen Augen, und sie wusste, dass die ältere Hexe ihr nicht böse war.
Die Gefühle übermannten Aryn. »Schwester Mirda, was Ihr in jener Nacht getan habt, als wir das Muster webten, es war …« Sie schüttelte den Kopf, da ihr die Worte fehlten, um ihre Empfindungen zu beschreiben. Also sprach sie stattdessen durch die Weltenkraft, denn auf diese Weise konnten ihre Gefühle so klar übertragen werden wie ihre Gedanken.
Es war wunderbar. Mehr als wunderbar. Es war wie eine Kerze, die mitten in der dunkelsten Nacht leuchtet. Wärt Ihr nicht gewesen, hätte Schwester Liendra …
Mirda ergriff ihre Hände. Lasst uns nicht von dem sprechen, was vorbei ist. Ich habe nur das getan, was ich tun musste. Und das werdet Ihr auch tun.
»Aber Ihr habt Eure Studien mit Schwester Lirith zu lange vernachlässigt«, sagte Mirda laut. »Darum hat mich die Königin gebeten, sie zu begleiten, als sie ihr Mündel nach Calavere brachte. Wir wissen, was in Tarras geschehen ist – König Boreas hat es der Königin beim Essen berichtet. Es ist eine düstere Geschichte, so viel steht fest, und wir können nur zu Sia beten, dass unsere Schwester Lirith heil nach Hause zurückkommt. Aber in der Zwischenzeit werde ich Eure Lehrerin sein. Eure Vermählung wird Euch zur Königin machen, aber Ihr seid von Geburt eine Hexe, und das ist etwas, das Ihr niemals vergessen dürft.«
Aryn nickte, aber etwas in Mirdas Worten ergab keinen rechten Sinn. Doch sie kam nicht darauf, was es war.
»Habt Ihr einen Umhang mitgebracht?«, fragte Mirda.
Aryn schüttelte den Kopf. Hier war es behaglich warm. Wozu auf Eldh sollte sie einen Umhang brauchen?
»Einige Dinge lernt man am besten im Mondlicht«, beantwortete Mirda Aryns unausgesprochene Frage. »Aber keine Angst, Ihr werdet nicht frieren. Ich habe einen, den ich Euch leihen kann.«
Sie öffnete einen Schrank und wühlte in den dort verstauten Kleidern herum. Wieder einmal fragte sich Aryn, wie alt Mirda wohl war. Um ihre Augen und den Mund gab es feine Fältchen, und eine einzelne weiße Locke bot einen ausdrucksvollen Kontrast zu ihrem pechschwarzen Haar. Doch Mirda konnte unmöglich älter als fünfunddreißig Winter sein. Andererseits verriet ihr Blick eine Tiefe und eine Weisheit, die Aryn an Melia erinnerte. Und Melia war vor über zweitausend Jahren geboren worden.
Bevor Aryn weiter darüber nachdenken konnte, zog Mirda einen Wollumhang aus dem Schrank und half ihr, ihn sich über die Schultern zu legen. Dann nahm sie ihren eigenen Umhang. Als sie das tat, drang ein leiser Laut aus einer der Türen des Gemachs. Nicht die Tür, hinter der die Dienerinnen schliefen, sondern eine andere.
»Was war das?«, fragte Aryn überrascht.
Der Laut ertönte wieder, diesmal deutlicher. Es war eine Frauenstimme; sie stöhnte, als litte sie Schmerzen. Aryn begriff plötzlich.
»Es ist die Königin!« Sie wollte auf die Tür zugehen.
Mirdas Berührung an Aryns Arm war so leicht wie der Flügelschlag eines Kolibris, aber sie hielt sie dennoch auf. »Die Königin ist müde, das ist alles. In letzter Zeit schläft sie schlecht, denn sie hat große Sorgen. Aber sie hat sich heute Abend einen Trank zubereitet, und ihr Schlaf darf nicht gestört werden.«
Der Laut ertönte nicht noch einmal; Ivalaine musste sich im Schlaf beruhigt haben.
»Ist sie krank?«, fragte Aryn.
»Nein, Schwester. Nicht auf die Weise, wie Ihr vielleicht denkt.«
Was konnte es dann sein? Aryn kam ein schrecklicher Gedanke. »Ist es sicher für sie, Ar-Tolor verlassen zu haben?«
»Kommt«, sagte Mirda und ging zur Tür. »Der Mond ist aufgegangen. Es ist Zeit, mit Eurem Unterricht zu beginnen.«
Mirda eilte mit schnellen Schritten durch das Schloss, ihr Umhang flatterte wie blaue Flügel, und Aryn musste beinahe rennen, um mit ihr mithalten zu können; es gab keine Gelegenheit für weitere Fragen. Aber Aryn konnte den Verdacht nicht abschütteln, dass sie einen Nerv getroffen
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