Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
sagte sie. »Ich kann es in deinen Augen lesen. Sag mir, was es ist.«
»Ich dachte an Euren Meister«, log er schnell und versuchte, dabei nicht auf die tote Taube zu schauen. »Er ist seit mehr als einem Zeitalter verbannt. Wird er wirklich die Stärke haben, das zu tun, was er tun will?«
»Lächerliche Gedanken! Ich hätte dich nicht für so schwach wie Liendra gehalten. Wie kannst du die Macht des Herrn des Sonnenuntergangs anzweifeln?«
»Er ist einst besiegt worden. Die Alten Götter und die Gottheiten von Tarras haben ihn jenseits des Kreises der Welt verbannt, so wie Ihr und ich verbannt wurden.«
»Und doch wird jeder von uns am Ende siegreich sein. Und die, die es gewagt haben, uns zu verbannen, werden sich uns zu Füßen werfen, bevor wir sie vernichten.« Sie strich mit schlanken Fingern über einen Baumstamm, und da, wo sie die Rinde berührte, verfärbte sie sich schwarz.
»Du wirst es erleben«, sagte Shemal nun mit leiser Stimme. »Ich muss gestehen, dass ich vor nicht langer Zeit ähnliche Zweifel verspürte. Die Großen Steine Krondisar und Sinfathisar waren verloren, und die Zauberer von Scirath erwiesen sich als so nutzlos wie Insekten. Sie behaupteten, so mächtig zu sein. Sie würden ein Tor zwischen den Welten öffnen und Mohg hindurchtreten lassen. Dazu hätte ich ihnen bloß zeigen müssen, wie sie irgendeine tote Stadt aus dem Sand des Südens ausgraben können.« Ihr entfuhr ein scharfes Lachen. »Natürlich wusste ich nichts über diese Stadt, die sie suchten, aber ich versprach ihnen, sie ihnen zu enthüllen, wenn sie das taten, was sie versprachen. Ich wusste, es würde keine Rolle spielen, dass, sobald der Herr des Sonnenuntergangs nach Eldh zurückkehrte, die Scirathi seine Sklaven sein oder vernichtet werden würden.«
Er stampfte mit seinen Füßen in dem vergeblichen Versuch, sie in seinen Stiefeln zu wärmen. Sie hatte die Zauberer getäuscht, so wie er sie zu täuschen versuchte. Konnte er wirklich hoffen, sie in ihrem eigenen Spiel zu übertrumpfen? Er musste sich doch nur ansehen, was mit den Scirathi geschehen war.
»Die Zauberer wurden vernichtet«, murmelte er.
Furcht erfasste ihn. Er hatte nicht beabsichtigt, den letzten Gedanken laut auszusprechen. Aber sie schien das Missgeschick nicht zu bemerken.
»Dafür hat Melindora Nachtsilber gesorgt, verflucht sei dieses Miststück! Sie und dieser dumme Barde und ihr Runenbrecherwelpe. Wie sehr ich mir doch wünsche, dass sie tot wären! Ich würde ihre Kadaver in taumelnde Hüllen verwandeln und sie mir dienen lassen.« Ihre Kapuze verrutschte ein Stück und enthüllte einen nach unten gezogenen Mundwinkel und Lippen so schwarz wie Blutergüsse, die sich von schneeweißer Haut abhoben. »Aber bald wird es so weit sein. Der Rabe, den du losgeschickt hast, ist bei mir eingetroffen, und seine Botschaft hat alles verändert. Krondisar und Sinfathisar sind nach Eldh zurückgekehrt. Die Diener des Fahlen Königs haben sie am Schwarzen Turm nicht in ihre Hände bekommen, aber Berash wird bald persönlich losreiten, um sie zurückzubekommen, und er wird sie neben Gelthisar in die eiserne Halskette Imsaridur einfassen. Wenn das geschieht, wirst du die Rune des Himmels brechen …«
»… und Mohg kehrt nach Eldh zurück«, sagte er, und sein Atem war ein Nebel aus Furcht und Staunen. »Er wird vom Fahlen König die Imsari entgegennehmen, und mit ihnen wird er die Erste Rune brechen. Er wird die Welt zerstören und sie dann nach seinem eigenen dunklen Antlitz neu erschaffen.«
Sie war noch nie so gesprächig gewesen, nicht seit jenem ersten Tag, an dem sie im Zwielicht bei den Ruinen des Weißen Turms der Runenbinder zu ihm gekommen war. Die Botschaft, die er dem Raben anvertraut hatte, musste sie tatsächlich in starke Erregung versetzt haben. »Was ist mit den Domänen?«, wagte er zu fragen. »Was ist, wenn sie sich verbünden und gegen den Fahlen König in den Krieg ziehen, ihn daran hindern, die Imsari in seine Gewalt zu bekommen? Die Königin von Malachor ist entdeckt worden. Wird sie die Domänen nicht vereinigen?«
Shemal lachte, es klang wie zerbrechendes Eis. »Welche Domänen denn? Eredane und Brelegond werden von Kelephon und seinen schwarzen Rittern geknechtet. Sosehr ich ihn auch verabscheue, hat er seine Aufgabe doch gut erfüllt. Embarr wird bald folgen, und Perridon und Galt sind schwach und nutzlos.«
»Und was ist mit Toloria und Calavan?«
Die schwarze Kapuze drehte sich und wandte sich dem Schloss auf
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