Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
vor, wie er die Finger tanzenden Flammen entgegenstreckte …
Das waren närrische Gedanken; die Kälte hatte seinen Verstand genauso eingefroren wie seine Hände und Füße. Doch ihm war klar, dass er seinen Scharfsinn auftauen musste, denn wenn er seine Worte nicht mit Sorgfalt wählte, würden sie ihn verraten. So wie er sie verraten wollte. Er murmelte Ber, die Rune der Kraft, und ging weiter.
Es war die Stille, die ihn warnte. Irgendwo im Hain hatte eine Taube traurig gegurrt. Die Musik verstummte. Er drehte sich um, und das Herz in seiner Brust verwandelte sich in einen Eisklumpen. Neben einem Baum stand eine Gestalt in einer schwarzen Kutte. Der Kuttensaum schwang hin und her, dabei wehte kein Luftzug. Nur eine Fußspur verunstaltete den Schnee: seine eigene.
Er zitterte, und das nicht nur wegen der Kälte. Jeder Instinkt befahl ihm, die Flucht zu ergreifen. Stattdessen zwang er seine Beine dazu, sich in Bewegung zu setzen, ihn zu der Gestalt zu bringen. Eine Armlänge von ihr entfernt hielt er das harte Bündel unter seinem Umhang fester. Zu ihren Füßen lag die Taube mit gebrochenem Genick. Blut benetzte den Schnee wie Winterbeeren.
Eine Stimme so scharf wie das Knacken zerbrechender Zweige drang aus der Kapuze hervor. »Warum hast du so lange gebraucht?«
»Vom Schwarzen Turm ist es eine lange Reise.« Seine Lippen schienen aus Lehm geformt; das Sprechen bereitete Mühe. »Ich ritt, so schnell ich konnte.«
»Tatsächlich? Dein Pferd schien nicht übermäßig erschöpft zu sein, als ich an ihm vorbeikam.«
Er sah nach hinten. Zwischen den Bäumen konnte er mühsam eine große Masse ausmachen, die im Schnee lag; die schlanken Beine ragten steif zur Seite. »Das war mein drittes Pferd. Das letzte ist im Osten von Calavan unter mir zusammengebrochen.«
»Sie sind so zerbrechlich. Ich würde eine solche Schwäche bei keinem meiner Diener dulden.«
Er erwiderte nichts, und sie schwebte über den Schnee näher an ihn heran. Ein feiner Vorhang aus Eis bestäubte sein Wams.
»Bist du sicher, dass du unterwegs nicht an der Festung deiner Brüder Halt gemacht hast?«, sagte sie. »Sie ist nicht so weit von Ar-Tolor entfernt. Vielleicht hast du ja den Wunsch verspürt, ihnen deinen Fund zu zeigen?«
»Sie sind nicht länger meine Brüder. Mir ist für alle Ewigkeit verboten, zu meinem Zuhause zurückzukehren – etwas, das Euch ebenfalls vertraut ist, wenn ich mich nicht irre.«
Im Inneren der Kapuze funkelte ein milchiges Auge. »Sei vorsichtig, Sterblicher!«
Er lachte, kaum weniger über seine Reaktion überrascht als sie. »Glaubt Ihr nicht, dass es dafür schon lange zu spät ist, Shemal?«
Sie schnalzte mit der Zunge. »Und, hast du sie?«
»Ja.«
»Schnell – zeig sie mir!«
Er holte das Stoffbündel hervor, das er die vielen Meilen in der Nähe seines Herzens getragen hatte. Verzeih mir, mein Freund. In der Hoffnung, dass sie sein Zittern allein der Kälte zuschrieb, wickelte er den Stoff auseinander und enthüllte eine Scheibe aus cremefarbenem Stein von der Größe seiner ausgebreiteten Hand. In ihre Oberfläche war eine silbrige Rune eingearbeitet. Tal. Himmel.
Sie streckte Hände so bleich wie die Scheibe aus.
»Ihr wollt sie also halten?«
Sie zischte und riss die Hände zurück. »Verspottest du mich?«
Er hielt seinen Tonfall desinteressiert. »Das glaube ich kaum.« Aber als er die Scheibe wieder einpackte, verspürte er Triumph in sich aufblitzen. Er hatte vermutet, dass sie es nicht wagen würde, die Rune zu berühren; bestimmt vertrug sich die Runenmagie nicht mit der ihren. Sie brauchte ihn noch immer, um die Rune zu tragen. Und sie zu brechen.
Sicher, es gab noch zwei Personen auf der Welt, mit denen Shemal die Rune des Himmels hätte brechen können. Aber der Runenmeister Kelephon diente dem Fahlen König und nicht ihr. Und der Mann, den die Hexen für den Runenbrecher aus der Prophezeiung hielten, Travis Wilder, war ein Werkzeug ihrer Feindin Melindora Nachtsilber. Also hatte Shemal sich einen anderen Runenbrecher gesucht, einen, den sie zu ihrem Sklaven machen konnte, und sie hatte ihn gefunden. Sie hatte ihn dazu gebracht, vor ihr zu kriechen, und er hatte es begierig getan und sich ihr verschworen.
Alles in allem war es ein fast perfekter Plan. Es gab nur ein Problem. Er wusste nicht, wie man Runen brach. Und wenn sie dies entdeckte, bevor er eine Möglichkeit gefunden hatte, die Rune des Himmels zu brechen, war alle Hoffnung verloren.
»Du denkst an etwas«,
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