Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
aber sie konnte es nicht. Warum wollte Nakamura sie sehen? Wollte er sie weiter über die Geschehnisse in Colorado befragen? Er legte die gefalteten Hände auf den Tisch und schwieg.
Deirdre konnte sich nicht länger zurückhalten. »Farr ist weg«, sagte sie.
Nakamuras reglose Miene veränderte sich nicht. »Ja, das wissen wir. Er hat uns vor seiner Abreise einen Brief zukommen lassen. Ich bin sicher, Sie haben Ihr Bestes getan, ihn zum Bleiben zu überreden.«
»Ich weiß nicht, wo er ist.« Deirdres Hals schmerzte.
»Natürlich nicht, Miss Falling Hawk. Das weiß keiner. Agent Farrs Talente sind so, dass wir ihn nicht finden werden, bis er gefunden werden will.«
Deirdres Herzschlag wurde langsamer, und erst jetzt wurde ihr klar, dass Nakamura mit voller Absicht geschwiegen hatte. Er hatte gewollt, dass sie zuerst das Wort ergriff, er hatte sehen wollen, was sie sagen würde. Aber es war ihr egal, wenn er wusste, was sie beschäftigte. Sie hatte nichts zu verbergen.
Ach, wirklich nicht? Was ist mit Glinda? Was ist mit dem Wald, den du gesehen hast, als du sie geküsst hast?
Sie faltete die Hände im Schoß und bedeckte den silbernen Ring an ihrem rechten Ringfinger. »Was wird mit ihm geschehen?«
Nakamuras Blick war ernst und vielleicht auch etwas traurig. »Ich schätze, das wird am Ende von Mr. Farr abhängen.«
Deirdre nickte, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob sie da zustimmte. Sobald man eine Tür öffnete, konnte man danach wirklich kontrollieren, was hindurchkam? Vielleicht war Farr die letzte Person, die entscheiden konnte, was mit ihm geschehen würde.
»Ich habe alles gelesen«, sagte sie. »Alle Akten über Hadrian und mich. Die Berichte, die Einschätzungen, die Anmerkungen. Alles, das über uns geschrieben worden ist. Mein neuer Ausweis …«
»Hat Ihnen den Zugang gestattet.« Nakamura nickte. »Ja, natürlich haben Sie die Akten gelesen. Wir haben uns gedacht, dass Sie das tun würden, sobald man ihnen Echelon 7 gewährt. Möchten Sie einen Tee?«
Deirdre befeuchtete sich die Lippen. »Nein, vielen Dank.«
»Ich lasse Lucas eine zweite Tasse bringen für den Fall, dass Sie Ihre Meinung ändern.« Er berührte einen Knopf an seinem Telefon. »Lucas, bitte zwei Tassen Tee. Mit Honig und Zitrone. Und ein paar von diesen Biskuits – Sie wissen schon, die, von denen Abby behauptet, dass sie mir noch einen Herzinfarkt bescheren werden. Danke.«
Licht fiel durch das Fenster und ließ Nakamuras weißes Haar glänzen. Er erschien nett und großväterlich, aber Deirdre verwarf diesen Eindruck. Man stieg bei den Suchern nicht so hoch auf, indem man Tee und Kekse verteilte. Sämtliche Befehle, wie man mit ihr und Farr in Denver zu verfahren hatte, waren von diesem Schreibtisch gekommen.
»Sie haben uns benutzt«, sagte sie.
Er schaute über seine Bifokalbrille. »Natürlich, Miss Falling Hawk. Ihre Aktionen in Colorado haben uns viele Erkenntnisse gebracht. Ich weiß, dass man sie in eine gewisse Gefahr gebracht hat. Aber Sie und Farr waren willige Teilnehmer an dem Experiment, nicht wahr?«
Deirdre wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Mit diesem Grad an Ehrlichkeit hatte sie nicht gerechnet. Vielleicht hatte ihr neuer Rang ihr mehr als nur den Zugang zu Echelon 7 gebracht.
»Ich glaube, Sie haben eine wertvolle Erfahrung gemacht«, fuhr Nakamura fort. »Es ist nützlich für den Beobachter, wenn er weiß, wie es sich anfühlt, das Objekt zu sein. Ich weiß, dass es meine Perspektive verändert hat. Gut, hier ist Lucas mit unserem Tee.«
Ein weißhaariger Mann mit einem silbernen Tablett kam ins Zimmer geschlurft. Es hieß, Lucas würde den Suchern bereits seit der Großen Depression dienen. Alt genug dafür sah er jedenfalls aus; er hatte nach vorn gekrümmte Schultern und eine Habichtsnase, und er schien in dem staubigen schwarzen Anzug, der offensichtlich schon vor Jahren von einem größeren Mann getragen worden war, zu verschwinden.
Lucas stellte das Tablett auf Nakamuras Schreibtisch ab, die Porzellantassen klirrten. Deirdre nahm kaum bewusst wahr, dass er mit einer zitternden, weiß behandschuhten Hand eine dampfende Tasse vor ihr abstellte. Was hatte Nakamura da gerade zu ihr gesagt?
Ich weiß, dass es meine Perspektive verändert hat …
War Nakamura einst Gegenstand einer Beobachtung durch die Sucher gewesen, so wie sie und Farr in Denver?
»Danke, Lucas«, sagte Nakamura mit einem Lächeln.
Der alte Mann verbeugte sich steif und blieb so lange
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