Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
Mythen und Kulturen alles andere als edle Geschöpfe darstellten. Stattdessen betrachtete man sie als Aasfresser – Boten von Tod und Verfall, denen Streit und Zerstörung folgten. Aus irgendeinem Grund waren es diese Mythen und Geschichten, die ihr einfielen, als sie zu dem Vogel hochschaute. Er legte den Kopf schief, beobachtete sie.
»Geh weg«, flüsterte sie.
Mit einem lauten Krächzen breitete der Vogel die Schwingen aus und stürzte sich auf ein rot geflecktes Fellbündel mitten auf der Straße. Ein totes Eichhörnchen oder vielleicht auch eine Katze; es war zu platt gefahren, um es genau sagen zu können. Der Vogel hüpfte zu dem toten Ding und pickte danach.
Ein schriller Laut zerriss die Luft, und Deirdre stolperte einen Schritt zurück. Ein Lieferwagen, der so schwarz wie die Federn des Raben war, raste die Straße entlang. Der schattenhafte Fahrer hinter der Windschutzscheibe hupte erneut. Der Vogel breitete die Schwingen aus und sprang von der Fahrbahn.
Er war zu langsam. Der Lieferwagen traf den Raben. Es gab ein feuchtes, dumpfes Dröhnen, dann stoben schwarze Federn in alle Richtungen. Ohne langsamer zu werden, passierte der Lieferwagen Deirdre. Auf seine Seite war ein großes D gemalt, das mit einer weißen Mondsichel verschmolz.
Duratek. Es hatte den Anschein, als wären sie überall. Man sah sie ständig in den Nachrichten, und Deirdre sah die geisterhafte Mondsichel ein Dutzend Mal am Tag auf Autos, T-Shirts, Handys, Computerbildschirmen und Schaufenstern. Jedes Mal, wenn sie den Fernseher einschaltete, dröhnte einer ihrer Werbespots – ein pompöses Schauspiel aus surrealen Landschaften, perfekten Häusern und Menschen mit einem leeren Lächeln, das zugleich für nichts und für alles warb.
Der Lieferwagen bog um die Ecke und war verschwunden. Auf der Straße lag ein kleiner schwarzer Haufen. Federn flatterten im Wind, aber ansonsten war das Ding reglos. Deirdre zwang sich dazu, den Blick von dem toten Raben zu wenden, und ging weiter.
Als sie die Stufen zur U-Bahn-Station Blackfriars erreichte, blieb sie stehen. Zu ihrem Apartment an der Südseite des Hyde Park waren es gute drei Meilen, aber welchen Grund gab es, sich zu beeilen? Sie ging weiter, und ihre Stiefel trommelten einen stetigen Rhythmus auf den Bürgersteig. In der Nähe von Charing Cross fiel ihr Blick auf einen einladend aussehenden Coffee-Shop, und sie gönnte sich ein spätes Frühstück. Zu ihrem Verdruss stellte sich heraus, dass der Laden zu einer Kette gehörte. Und es ärgerte sie nur noch mehr, dass der Kaffee auf perfekte Weise bitter und wohlschmeckend war und dass die Pfannkuchen, die man ihr hinstellte, mit einem Hauch echter Vanille gewürzt waren und ihr im Mund zergingen.
Das war die eigentliche Gefahr großer Konzernketten. Nicht, dass sie oft so furchtbar waren, sondern dass sie manchmal geradezu schrecklich gut waren.
So wird Duratek am Ende gewinnen. Selbst diejenigen von uns, die es besser wissen, werden verführt. Wir werden ihren perfekten Kaffee trinken, ihre luxuriösen Autos fahren und ihre modische Kleidung tragen, und in unserer Zufriedenheit werden wir vergessen, an die Menschen – die ganzen Welten – zu denken, die man ausgebeutet hat, damit wir diese Dinge bekommen.
Sie aß den Teller leer, trank die Tasse aus und hinterließ dem in Khaki gekleideten Kellner ein großes Trinkgeld. Auf dem Weg nach draußen kam sie an einem Zeitungskasten vorbei, und die Schlagzeile sprang ihr ins Auge. Der Börsenmarkt in Amerika raste weiter steil in die Tiefe und zerrte die Weltwirtschaft mit. Aber eine Aktie stemmte sich gegen den Trend, wie eine Unterzeile verkündete, und kletterte weiter steil nach oben: Duratek. Deirdre wandte sich ab und ging weiter.
Etwas mehr als eine Stunde später betrat sie ihr Apartment und sah das Licht auf dem Anrufbeantworter blinken. Noch bevor sie die Nachrichtentaste drückte, wusste sie, dass Hadrian Farrs akzentlose Stimme aus der Maschine kommen würde.
»Es tut mir Leid, dass ich Sie verpasst habe, Deirdre. Vermutlich sind Sie im Stiftungshaus, als gute brave Sucherin, so wie sie es haben wollen. Aber tun Sie mir einen Gefallen, und seien Sie nicht so brav. Jemand muss die Philosophen zu Wutanfällen bringen, und ich glaube, Sie kriegen das mühelos hin. Deirdre, Sie müssen ihre eigene Philosophin sein. Sie sind die Einzige, der Sie jetzt noch vertrauen können.«
Deirdre drückte die Hand aufs Herz und lehnte den Kopf an die Wand. Sie versuchte sich
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