Die letzte Rune 10 - Der Runenbrecher
weiter.
Die vergangenen beiden Tage waren die längsten in Aryns Leben gewesen. Liendra hatte geschworen, sie nicht aus den Augen zu lassen, und die blonde Hexe hatte nicht gelogen. Es hatte den Anschein, als wäre sie ständig in der Nähe – oder eine der jungen Hexen, die jedem ihrer Befehle folgten, als kämen sie von Sia persönlich.
Aber sie meiden Sias Namen, so wie sie die Greisinnen aus ihren Zirkeln verbannt haben.
Und das war das Einzige, das Aryn noch Hoffnung machte. Ohne die alten Hexen und ihre Weisheit würden Liendra und ihre Handlanger Fehler machen. Zumindest klammerte sich Aryn an diesen Gedanken.
Man musste davon ausgehen, dass Liendra etwas plante, um die Krieger von Vathris davon abzuhalten, nach Norden zu Burg Todesfaust zu marschieren. Selbst König Boreas schien davon überzeugt. Aber was Liendra genau vorhatte, blieb ein Geheimnis – ein Geheimnis, das sie aufdecken mussten, wenn sie hoffen wollten, sie aufzuhalten. Und sie mussten sie aufhalten. Grace verließ sich auf sie.
Aryn sehnte sich verzweifelt danach, mit der Gabe zuzugreifen, ihr Bewusstsein über die vielen Meilen zu schleudern und mit Grace zu sprechen. Natürlich wagte sie es nicht, und das nicht nur wegen der vielen Hexen im Schloss. Die Pylonen des Fahlen Königs waren auf Befehl ihres Meisters zu neuem Leben erwacht, und ihre Magie schlängelte sich Vipern gleich durch die Stränge der Weltenkraft.
Wir haben dich nicht vergessen, Grace. Die Krieger von Vathris zählen bereits fünftausend Mann, und jeden Tag werden es mehr. Du musst nur noch eine Weile durchhalten.
Sie musste diese Worte an Sia beten, statt sie durch die Weltenkraft zu weben, aber irgendwie würde Grace die Botschaft durch den Willen der Göttin erhalten.
In der Zwischenzeit konnten sie Grace am besten helfen, indem sie Liendras Pläne aufdeckten. Was auch immer es war, es musste bald passieren. Das Heer von Vathris sollte am nächsten Tag unter dem Kommando von König Boreas aufbrechen. Liendra hatte keine Zeit mehr.
Was ihr Verhalten an diesem Morgen noch seltsamer machte. Sie waren ihr beim Frühstück im Großen Saal begegnet, und sie war die personifizierte Fröhlichkeit gewesen. Sie war nicht im Mindesten besorgt darüber erschienen, dass die Männer von Vathris zum Abmarsch bereitstanden.
»Wir werden sehen, was der morgige Tag bringt«, hatte die blonde Hexe gesagt. »In dieser Jahreszeit können plötzlich Stürme auftreten, und ich bin überzeugt, dass der König das weiß.«
Aryn hatte es gewagt, den König über ihre Worte zu informieren. Schließlich konnte Liendra sie nicht dafür bestrafen, dass sie mit ihrem Lehnsherrn und Vormund sprach. Zumindest hoffte sie das. Aber Boreas war genauso unbesorgt wie Liendra erschienen.
»Natürlich schmiedet Lady Liendra Pläne gegen mich«, hatte der König gesagt; er hatte vor dem lodernden Kaminfeuer in seinem Gemach gestanden. »Sie ist eine Hexe. Sie kann nicht anders.« Dann hatte er sie durchdringend angesehen. »Nichts für ungut, Mylady.«
Trotz ihrer Angst hatte Aryn trocken grinsen müssen. »Natürlich nicht, Euer Majestät.« Dann hatte sie die Frage gestellt, die ihr in den vergangenen beiden Tagen auf der Seele gelastet hatte; sie hatte den König gefragt, warum er Liendra und ihre Hexen im Schloss wohnen ließ.
Boreas hatte nur gelacht. »Das ist ganz einfach, Mylady. Es ist viel besser, seine Feinde in seiner unmittelbaren Nähe zu haben, wo man sie im Auge behalten kann. Ich habe nicht vor, mich von irgendwelchen Zaubern überraschen zu lassen, die Lady Liendra vielleicht webt.«
Aryn hatte das glauben wollen, aber sie wusste nicht, ob ihr das auch gelang, und aus diesem Grund musste sie mit Ivalaine sprechen. Bis vor kurzem war sie die Mutter der Hexen gewesen, und wenn jemand Liendras Pläne kannte, dann war sie es. Es gab nur ein Problem: Ivalaine hatte Aryn und Lirith verboten, jemals wieder mit ihr zu sprechen.
Die beiden Hexen betraten einen leeren Korridor. Ivalaines Gemächer lagen direkt vor ihnen.
»Was ist, wenn sie nicht da ist?«, sagte Aryn, der plötzlich Bedenken kamen.
»Sie ist da«, erwiderte Lirith. »Der Diener, mit dem ich gesprochen habe, hat gesagt, dass die Königin sämtliche Mahlzeiten in ihren Räumen einnimmt.«
Aryn griff mit der Gabe zu, aber sie spürte keine Lebensfaden in der Nähe. Sie eilte hinter Lirith her zur Tür der Königin. Die beiden Frauen tauschten einen letzten nervösen Blick, dann hob Lirith die Hand, um
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