Die letzte Rune 10 - Der Runenbrecher
und als die Macht des Lebens in sie hineinströmte, war alle Furcht vergessen. Mit einem einzigen schnellen Gedanken webte sie die schimmernden Stränge zu einem neuen, funkelnden Muster.
Ivalaine schrie auf. Ihre Füße verloren den Kontakt mit dem Boden, ihr Körper flog zurück, als hätte sie eine unsichtbare Faust getroffen. Sie prallte gegen die Wand, und die Nadel wurde aus ihrer Hand geschleudert. Die Königin stöhnte auf – ein Laut aus Furcht und Wut und Schmerz –, und sie wand sich, aber ihre Hände und Füße wurden wie von unsichtbaren Stricken gehalten gegen die Wand gedrückt.
Unsichtbar für alle außer Aryn, denn sie konnte die leuchtenden Stränge der Magie sehen, die die Königin an Ort und Stelle hielten, genau wie sie spürte, dass Ivalaine dagegen ankämpfte. Aber die Macht der Königin war Aryns nicht gewachsen. Aryn schaute ihre Hände an – die linke, gesund und perfekt, und die rechte, verkrümmt und verkümmert. Keine zitterte.
»Beim Blut des Stiers«, fluchte Petryen. Er ließ Sareth los und bedeutete den Wachen, es ihm gleichzutun.
Sareth setzte sich auf dem Bett auf. Er berührte vorsichtig sein Kinn. Es bildete sich bereits eine Schwellung. Lirith rannte zu ihm, und er umarmte sie.
»Es war die Königin«, sagte Petryen ungläubig. »Sie wollte den Prinzen ermorden.«
»Zwei Mal.« Aryn bückte sich und hob die Nadel auf; dabei achtete sie darauf, die Spitze nicht zu berühren. »Dieses Gift hätte sein Herz sofort aufhören lassen zu schlagen.«
»Aber warum?«, fragte Petryen.
Teravian war aufgestanden. Er sah Ivalaine an, mit unleserlichem Gesichtsausdruck, und hielt sich den Hals. »Vielleicht solltet Ihr sie fragen.«
Aryn wusste, dass das sinnlos war. Ivalaine hatte aufgehört, sich zu wehren, und sackte in den unsichtbaren Fesseln zusammen. Sie hatte die Augen verdreht, ihre Lippen waren feucht vom Speichel. Sie schien etwas zu sagen, aber kein Laut kam aus ihrem Mund.
»Informiert den König, was passiert ist«, sagte Petryen zu einer Wache. »Und bringt mehr Männer, um sie in den Kerker zu bringen.«
Der Kerker? Bei Sia, das war nicht richtig – sie war eine Königin. Aber die Wache nickte, drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum.
Aryn ging näher an Ivalaine heran und legte ihr die Hand auf die Wange. Sie schloss die Augen und tastete mit der Gabe, aber Ivalaines Lebensfaden war mattgrau, und als Aryn ihn ergriff, konnte sie kein Licht, keinen Bewusstseinsfunken spüren.
Aryn drehte sich um; Tränen strömten ihre Wangen hinunter. »Sie ist nicht mehr bei uns.«
Lirith schluchzte auf und drückte das Gesicht gegen Sareths Brust. Er legte die Arme um sie. Petryen schüttelte angewidert den Kopf. Von ihnen allen schien allein Teravian keine Gefühle zu haben. Er betrachtete die Königin mit seinen dunklen Augen. Was dachte er?
Ich habe darüber nachgedacht, was sie mir gesagt hat.
Die Lippen des Prinzen bewegten sich nicht, aber Aryn hörte seine Stimme laut und deutlich. Sie starrte ihn an, sowohl über seine Kommunikationsmethode erstaunt wie auch über seine Worte.
Was?, schaffte sie schließlich zu sagen. Was hat sie Euch gesagt?
Teravian wandte ihr den Rücken zu und verließ das Gemach. Er verschwand gerade aus ihrer Sicht, da erklang seine Stimme noch einmal in ihrem Bewusstsein.
Sie hat gesagt, sie würde mich lieben.
4
Sie erreichten Burg Todesfaust an einem kalten, hellen Nachmittag Ende Durdath, gerade als Grace fest davon überzeugt war, keinen weiteren Schritt mehr nach Norden machen zu können. Als das Heer den Zugang zu dem schmalen Tal betrat, flogen über ihm drei Adler, deren Federkleid im Licht der nach Westen sinkenden Sonne golden schimmerte und deren Rufe von den schroffen Felsen widerhallten. Riefen sie ihnen einen Willkommensgruß zu? Oder war es eine Warnung?
»Nun«, sagte Grace zu Durge. »Wir sind da.«
»Ich habe keinen Augenblick lang daran gezweifelt, dass wir es schaffen, Euer Majestät«, sagte Durge durch den eisverkrusteten Schnurrbart.
Grace warf dem Ritter ein erschöpftes Lächeln zu. »Komisch, dass Ihr das sagt. Ich schon.«
Vor drei Tagen hatten sie den zugefrorenen Fluss Fellgrim überquert, und Grace hatte es nicht Leid getan, Embarr hinter sich zu lassen. Es war nicht nur die Ödnis der Domäne gewesen, die ihr zu schaffen gemacht hatte; es war die Niedergeschlagenheit in Durges und den Augen aller embarranischen Ritter gewesen. Embarr war der Ort, an dem sie geboren worden waren, wo sie
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