Die letzte Rune 10 - Der Runenbrecher
ihr ganzes Leben verbracht hatten. Allein durch König Sorrins Befehle war es eine Domäne der Geister geworden.
Es hatte den Anschein, als würde das Heer alle paar Meilen auf ein weiteres verlassenes Dorf stoßen. Und alle waren sie gleich. Die Türen der Hütten waren Wind und Schnee geöffnet; aus den Schornsteinen kam kein Rauch. Die einzigen Lebewesen waren Hunde, die mit eingeklemmten Schwänzen knurrend zwischen den Gebäuden herumschlichen und deren Rippen hervortraten. Und sie würden nicht mehr lange am Leben sein.
Das Heer kam auch an Herrenhäusern vorbei und Hügelfestungen, und sie alle standen genauso leer wie die Dörfer. Einmal waren sie zu einer richtigen Stadt mit einer Mauer gekommen, in der nicht ein Mensch zu finden gewesen war. Sie hatten sie betreten und nach Dingen gesucht, die sie gebrauchen konnten, aber sie waren nicht lang geblieben. Es war unheimlich gewesen, durch die stillen Straßen der Stadt zu gehen. Würde so die Welt aussehen, wenn Mohg sie beherrschte? Nicht ein Ort der Schatten, an dem die Schreie der Qual widerhallten, sondern kalt und leer, ohne Laute, ohne Leben?
Irgendwann kam Grace zu dem Schluss, dass die ganze Domäne leer war, dass selbst wenn sie die Hauptstadt Barrsunder betreten hätten, sie sie so leblos wie den Rest des Landes vorgefunden hätten. Dann, zwei Tage, nachdem sich Sir Vedarr und seine Ritter dem Heer angeschlossen hatten, berichteten die Spinnenmenschen endlich, dass sie auf Lebenszeichen gestoßen waren. Aber das war kein Grund zur Freude, denn die Spione hatten eine Kompanie aus fünfzig schwarzen Rittern erspäht, die im Westen patrouillierte.
Aldeth hatte den Auftrag der Ritter nicht feststellen können, aber Grace kannte ihn. Sie suchten nach ihr. Der Runenmeister Kelephon wollte noch immer Fellring haben, und er wollte noch immer ihr Blut, damit er das Schwert führen und den Thron des auferstandenen Malachor für sich beanspruchen konnte.
Aber die schwarzen Ritter kamen nie näher als zwei Meilen an das Heer heran. Grace wusste nicht, ob sie dafür dem Glück oder Tira danken musste. Aber was es auch war, der Gedanke, wie Kelephon vor Wut schäumen würde, sollte er je erfahren, dass seine Ritter bis auf ein paar Meilen an sie und Fellring herangekommen waren, amüsierte sie. Als Tarus sie fragte, worüber sie grinste, lachte sie bloß und drückte Tira an sich. Der Ritter warf ihr einen befremdeten Blick zu und galoppierte davon, dabei murmelte er etwas über den Wahnsinn von Königinnen und Hexen.
Am nächsten Tag überquerten sie den Fellgrim, und es gab nur ein unbedeutendes Missgeschick; ein Pferd durchbrach das Eis, wurde aber schnell wieder herausgezogen. Pferd wie auch Reiter waren kalt, nass und mitgenommen, aber nicht ernstlich verletzt.
Auf der anderen Flussseite ritten sie durch einen Wald. Er erinnerte Grace an die Wälder Colorados; er war hell und offen, und zwischen den Bäumen gab es genug Platz, um sich vorwärts zu bewegen, und der Boden war mit einem Teppich aus weichen Tannennadeln bedeckt. Hier und da wuchsen kleine Büsche Immergrün, die winzige orangerote Beeren trugen und allem Anschein nach wie Kinnikinick aussahen.
Aber das hier war nicht Colorado. Die silbrigen, blattlosen Bäume waren Valsindar, keine Espen, und die Nadeln der Sintaren wiesen eine purpurgrüne Färbung auf. Trotzdem ähnelten sie dermaßen Goldkiefern, dass Grace am Abend, als sie das Lager aufschlugen, nicht widerstehen konnte, zu einem Baum zu gehen, die Nase an die von der Sonne gewärmte Rinde zu halten und tief einzuatmen.
»Eiscreme«, sagte sie, als Paladus sie neugierig ansah. »Wo ich herkomme, riechen einige Kiefernbäume wie Vanilleeis.«
Der tarrasische Kommandant schaute skeptisch drein. »Und riecht dieser Baum wie die Vah'nille?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, eher wie Buttertoffee.«
Tira hielt die Nase an den Baum und lachte.
Paladus zögerte, dann folgte er ihrem Beispiel und beschnüffelte die Baumrinde. Dann drehte er sich mit großen Augen herum. »Es riecht köstlich.«
Grace lachte. »Das tut es.«
Im Verlauf des Abends blieb Grace nicht verborgen, dass mehr als nur ein Mann von Sintaren zu Sintaren ging und an jedem roch. Trotz allem, was vor ihr lag, fühlte Grace, wie sich ihre Stimmung hob.
Der Wald war menschenleer, aber er vermittelte nicht das gleiche Gefühl der Verlassenheit wie Embarr. Er war traurig, das schon, aber er vermittelte auch Zufriedenheit. Dieses Land hatte gelernt, allein zu
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