Die letzte Rune 10 - Der Runenbrecher
hast. Jetzt bring es zu Ende. Vernichte Shemal.
In diesem Augenblick warf Aryn die letzten unschuldigen Überbleibsel der Jugend ab. Sie wandte sich von der Freundin ab, die sie liebte, und wandte sich stattdessen dem Feind zu. Sie öffnete sich weiter und ließ die ganze Macht der Weltenkraft durch sich hindurch in Shemal hineinströmen.
Es reichte nicht aus. Shemal wand sich, sie schlug um sich, sie zischte und spuckte, aber sie stürzte nicht. Sie konnte nicht sterben, denn sie war bereits tot; die Macht des Lebens konnte sie nicht zerstören, weil sie trotzdem lebte. Es war sinnlos.
Die Energie der Weltenkraft floss durch Aryn, so stark wie zuvor, aber sie fühlte, wie sie schwächer wurde. Das Gefäß, das ihr Körper darstellte, war nicht dazu geschaffen, die Macht einer solchen Magie zu ertragen. Sie fühlte, wie sie verschlissen wurde wie Steine in einem Flussbett. Aber wozu ein Fluss Jahrhunderte brauchte, würde den Strom der Weltenkraft nur noch wenige Herzschläge kosten. Smaragdgrünes Licht schimmerte durch Aryns Haut hindurch. Shemals Fratze veränderte sich, aus der gequälten Grimasse wurde ein zufriedenes Lächeln.
Es tut mir Leid, Schwester, wollte Aryn sagen, aber ihre Stimme ging im Brausen der Flut unter. Sie fühlte sich so durchsichtig und zerbrechlich wie Glas. Noch einen Augenblick, und alles würde vorbei sein.
»Bleib weg von ihr, Ungeheuer!«, befahl eine donnernde Stimme.
Mit der letzten Kraft schaute Aryn durch die schimmernde Magie. Eine Gruppe Ritter auf Schlachtrössern kam heran, ihre Rüstungen funkelten im Morgenlicht. Ihr Anführer sprang zu Boden. Es war König Boreas, und sein Antlitz war schön und schrecklich zugleich in seinem Zorn. Shemal sah in seine Richtung; ihre schwarzen Augen füllten sich mit Abscheu, aber sie konnte keinen anderen Körperteil rühren. Boreas zog das Schwert.
»Hör meinen Befehl, Kreatur der Finsternis – ich sagte, weg von meiner Tochter!«
Der König stieß mit dem Schwert zu.
Es war aus ganz normalem Stahl geschmiedet; die Klinge hätte niemals ein Wesen wie sie durchbohren können. Aber die Magie der Weltenkraft knisterte noch immer durch sie und um sie und band sie. Das Schwert drang in ihren Körper ein, und Boreas stemmte sich dagegen und trieb es durch ihre Brust, so dass die Klinge mit schwarzem Blut befleckt aus dem Rücken der Robe hervorbrach. Die Nekromantin starrte mit weit aufgerissenen Augen, ihre weißen Hände griffen kraftlos nach dem Schwertgriff in ihrer Brust.
»Der Zauber, Aryn!« Das war Sareth, der hinter ihr rief. »Du musst den Zauber brechen. Er bringt sie um.«
Aryn blickte sich um, aber nicht mit den Augen, sondern mit der Macht der Weltenkraft. Auf Sareths Gesicht zeichnete sich Qual ab. Vor ihm auf dem Boden lag ein Toter: Ajhir. Aber es lag noch eine andere Gestalt neben ihm. Es war Lirith, sie konnte es nur sein. Sie trug ein rostfarbenes Gewand; sie hatte das gleiche schimmernde schwarze Haar. Aber statt der kurvenreichen Gestalt der Hexe bekleidete der Stoff ein winziges, dunkles und verdorrtes Ding. Beine bogen sich wie Äste, dürre Arme reichten aus viel zu langen Ärmeln und endeten in Fingern, die so knotig und dünn wie Zweige waren. Die dunklen Augen blickten nicht aus einem makellosen, wunderschönen Gesicht, sondern aus einem Antlitz, das so verschrumpelt wie ein Apfel vom letzten Jahr war, den man in der Sonne hatte trocknen lassen.
Aryn ließ die Weltenkraft los. Jetzt strömte keine Macht mehr in sie hinein, aber sie hielt noch immer viel zu viel davon, und die Hülle ihres Körpers war zu zerbrechlich geworden. Die Magie würde sie zerschmettern, wenn sie sie nicht anderswo hinlenkte.
Es blieb keine Zeit, über die Klugheit des Plans nachzudenken. Mit einem Gedanken lenkte Aryn die Weltenkraft von der Nekromantin fort und schickte sie in Lirith hinein.
Liriths verwachsener Kiefer öffnete sich und entließ einen krächzenden Laut. Sareth schrie ebenfalls auf, denn Aryn war zu schwach, die Magie richtig zu kontrollieren. Er ließ das Schwert fallen und fiel auf die Knie, dann krümmte er sich über Lirith zusammen, während sich ein Kokon aus grünem Licht um sie herum bildete, der so hell strahlte, dass beide nicht mehr zu sehen waren.
Aryn taumelte – sie fühlte sich so schwach, so kalt und leer, jetzt, wo die Weltenkraft nicht länger durch sie hindurchfloß. Sie wäre gefallen, aber starke Arme fingen sie auf. Sie schaute nach oben in das grimmige Gesicht des
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