Die letzte Rune 11 - Das Blut der Wüste
da, und es gab viele Umarmungen – so viele, dass nicht einmal Meister Larad der einen oder anderen entging, obwohl er sich große Mühe gab, ihnen zu entkommen.
Aber als sie sich am Abend in Teravians Gemach zu einem privaten Abendessen trafen, war ihre Stimmung schon wieder gedämpft. Obwohl das von den Dienern aufgetragene Essen – gebratene Gans, Weißbrot, Beeren und frische Sahne – viel besser als alles war, was sie auf dem Weg nach Süden bekommen hatten, verspürte Grace doch nur geringen Appetit, als sie Aryn und Teravian von den Geschehnissen in Calavan und Toloria berichten hörte.
In diesem Sommer hatte es bereits einigen Aufruhr gegeben. Das Wetter war ungewöhnlich heiß gewesen; es hatte nur selten geregnet, und wenn es das tat, handelte es sich um schlimme Stürme, die das Korn auf den Feldern zu Brei zermanschten. Auf einem Hof nicht weit vom Schloss war ein Kalb mit zwei Köpfen geboren worden – ein Vorfall, der von den meisten Leuten als böses Omen betrachtet wurde. Als noch seltsamer empfand man es, dass die alte Hexe, die den Fluch, der auf dem Hof lag, hatte brechen wollen, beim Weben ihres Zaubers angeblich tot umgefallen war.
»Kann das denn sein, Schwester?«, fragte Lirith Aryn.
Die junge Königin zögerte, dann nickte sie. »Schon möglich, wenn sich die Fäden der Weltenkraft zu eng um sie herumgezogen haben. Ihr Lebensfaden könnte abgeschnürt worden sein.«
Lirith hielt eine Hand vor den Mund.
»Vor einer Woche wollte mein Schlossrunensprecher beim Essen die Rune der Reinheit sprechen«, sagte Teravian. »Aber er konnte es nicht. ›Jedes Mal, wenn ich eine Rune sprechen will, bleibt mir die Zunge am Rachen kleben‹, hat er mir gesagt. Der arme Mann war beinahe den Tränen nahe. Er kehrte am nächsten Tag in den Grauen Turm zurück und sagte, er würde sofort einen Ersatz für sich nach Calavere schicken.« Er wandte sich Grace zu. »Aber ich schätze, es wird niemand kommen, oder?«
»Nicht, wenn der Riss weiterhin wächst«, sagte Grace und versuchte nicht an die Hexe zu denken, die von ihrem eigenen Zauber erwürgt worden war. »Habt ihr ihn hier gesehen? Ich weiß nicht, ob er so weit im Süden schon sichtbar ist – die letzten Nächte waren bewölkt.«
Teravian hob ein Glas Wein, trank aber nicht. »Ja, wir haben ihn gesehen. Er erschien vor zehn Nächten im Norden – ein schwarzes Loch am Himmel, genau wie du es beschrieben hast.«
»Haben die Menschen Angst?«, wollte Grace wissen.
Teravian runzelte die Stirn. »Das ist ja das Merkwürdige. Ich war fest davon überzeugt, dass es so sein würde. Ich habe mit Bränden und Panik gerechnet, und ich war bereit, meine Männer loszuschicken, um für Ordnung zu sorgen. Aber das war nicht nötig. Die Leute gehen ihrem Alltag nach wie sonst auch, sie kümmern sich um ihre Felder, ihre Geschäfte, ihre Kinder. Aber es liegt keine Freude darin, keine Bedeutung. Sie machen es automatisch, das ist alles. Sie haben aufgehört, an den Schreinen der Mysterienkulte Opfergaben niederzulegen. Sie sagen, die Götter hätten sie im Stich gelassen, aber sie unternehmen nichts, um die Götter zurückzuholen. Es ist, als hätten sie keine …«
»Als hätten sie keine Hoffnung mehr«, sagte Aryn leise. Sie saß in der Nähe des Fensters auf einem Stuhl, ihre linke Hand ruhte auf ihrem dicken Bauch. »Sie haben keine Hoffnung mehr.«
Teravian stellte das Glas ab und kniete vor ihr nieder. »Es gibt Hoffnung, Aryn.« Er legte seine Hand auf die ihre. »Sie ist genau hier.«
Trotz der Furcht, die sich mittlerweile unwiderruflich in ihrer Brust eingenistet zu haben schien, musste Grace lächeln. Aryn und Teravian hatten einander nicht gewählt. Hätten sie die Wahl gehabt, hätten sie sogar jeder mit Sicherheit eine andere Person auserkoren. Trotzdem war in den drei Jahren seit ihrer Vermählung Liebe zwischen ihnen gewachsen, und sie war umso kostbarer, weil niemand mit ihr gerechnet hatte, so wie bei einer Blume, die mitten im Winter plötzlich blühte.
Aryn war aufgeblüht. Die hübsche, aber schüchterne junge Frau, die Grace seinerzeit als Erste in diesem Schloss kennen gelernt hatte, gab es nicht länger; sie war von einer schönen und majestätischen Königin ersetzt worden. Ihre blauen Augen waren noch immer lebhaft, aber nun mit Weisheit versehen, und das rabenschwarze Haar umrahmte ein Gesicht mit einer Haut wie Porzellan, dessen Züge schärfer als zuvor waren, dabei aber nichts von ihrer Freundlichkeit verloren
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