Die letzte Rune 11 - Das Blut der Wüste
Himmel. Im Gegensatz zum Horizont im Norden stand Tiras Stern im Süden nicht tief am Himmel, sondern ganz oben.
»Ich liebe dich«, murmelte Grace wie in einem Gebet. Vielleicht war es das auch, denn das kleine rothaarige Mädchen war jetzt eine Göttin und stand im Mittelpunkt des neuesten Mysterienkultes der Welt.
Und vielleicht auch des letzten. Grace sah nach Norden. Sie konnte ihn nicht sehen, aber sie wusste, dass sich der Riss dort befand und noch immer an Größe gewann.
Der Wind raschelte in den Blättern der Ithaya, und erst jetzt wurde sich Grace bewusst, dass die Musik geendet hatte. Sie senkte den Blick. Zu ihrer Überraschung war das Feuer niedergebrannt, die Mournisch gegangen. Wie lange hatte sie in den Himmel gesehen?
»Komm, Grace«, sagte Sareth und kniete vor ihr nieder. »Meine Al-Mama wartet auf dich.«
Sie blickte sich um. Außer Sareth und Larad war niemand zu sehen. »Wo sind alle hin?«
»Lirith hat Taneth zu Bett gebracht, und deinen Rittern hat man ihre Unterkünfte zugeteilt. Komm.«
Grace und Larad folgten Sareth zu einem Wagen am Rand des Kreises. Geformt wie ein Drachen, verschmolzen seine Umrisse mit der Nacht. Sareth öffnete die Tür und bedeutete ihnen, sie sollten eintreten.
Das enge Innere des Wagens wurde von einer einsamen Kerze erhellt. In dem schwachen Licht dauerte es einen Augenblick, die Frau von den diversen Kleiderbündeln und getrockneten Kräutern unterscheiden zu können. Sie sah selbst wie ein Bündel aus Lumpen und Stöcken aus. Sareths Al-Mama war bedeutend dünner als bei ihrer letzten Begegnung; die Haut war so durchscheinend und gelb wie Pergament, und die Knochen zeichneten sich darunter deutlich ab. Grace musste nicht mit der Weltenkraft nachsehen, um eine Diagnose stellen zu können. Gelbsucht. Leberversagen.
»Ja, ja«, sagte die Alte gereizt. »Ich sterbe. Und es wird auch Zeit. Diese alten Knochen sind schon lange überfällig und brauchen ihre Ruhe. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Kommt näher, damit diese alten Augen euch sehen können.«
Die Alte beugte sich vor. Ihre goldenen Augen waren von Katarakten durchsetzt, funkelten aber noch immer hell und lebendig. Schließlich nickte sie und seufzte und ließ sich auf ihr Lager zurücksinken.
»Also seid ihr gekommen, wie es vorherbestimmt war. Ich bin zufrieden. Ihr werdet ihn finden, und ihr werdet ihm helfen, sie zu finden.«
Grace schluckte. »Ihr meint Morindu die Finstere.«
»Natürlich meine ich Morindu!«, fauchte die Alte. »Aber wer ist dein Begleiter? Ich sehe den Mantel der Macht um ihn, auch wenn sich der Mantel auflöst. Er ist ein großer Zauberer des Nordens. Aber er ist nicht derjenige. Welche Rolle soll er spielen?«
»Könnt Ihr das nicht in Euren Karten sehen?«, sagte Larad und zeigte auf die abgegriffenen T'hot -Karten, die verstreut auf dem Tisch lagen.
»Bah!«, stieß die Alte aus. »Die Karten sind jetzt nutzlos. Die Fäden des Schicksals sind alle miteinander verschlungen. Nichts ist klar. Vor uns lauert die Finsternis, und ich weiß nicht, was auf der anderen Seite liegt, ob dort überhaupt etwas liegt. Aber das eine weiß ich.« Sie zeigte mit einem dürren Finger auf Grace. »Du wirst ihn finden, und du wirst ihn zu seinem Schicksal führen. Ich habe sie herbeibefohlen, um dir auf deiner Reise zu helfen. Das ist alles, was ich tun kann. Was den Rest angeht …« Sie senkte den Kopf und seufzte schwer. »Das liegt allein an Sai'el Travis.«
Grace wollte noch mehr fragen – wie sollte sie Travis finden, was sollte sie ihm sagen, was sollten sie tun.
»Geht«, sagte die Alte, ihre Stimme war ein mürrisches Krächzen. »Ich wollte euch nur sehen, und das ist jetzt geschehen. Ich werde das Ende von allem nicht mehr erleben, aber jetzt weiß ich, dass ein Ende naht. Geht und überlasst mich meinem Ende.«
Grace erwiderte Larads Blick, dann verließen sie den Wagen. Sie fanden Sareth in der Nähe des heruntergebrannten Feuers.
»Sie stirbt«, sagte Grace.
Sareth nickte, in seinen kupferfarbenen Augen spiegelte sich die Glut der ersterbenden Holzscheite. »Das hat sie uns so oft schon gesagt. Aber dieses Mal ist es die Wahrheit.«
Grace berührte seine Schulter. »Es tut mir Leid.«
»Nein, das ist nicht nötig.« Trotz der Traurigkeit in seiner Stimme lächelte er. »Sie hat ein langes Leben voller Wunder gelebt. Und vielleicht ist es besser so. Vielleicht ist es besser, wenn sie nicht mehr miterleben muss, wie …«
Grace verstärkte den Griff um seine
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