Die letzte Rune 12 - Die letzte Schlacht
den Stein eingravierten Linien.
»Das sieht aus wie die Piktogramme in der Höhle unter Tarras«, meinte Grace. »Aber es sind so viele. Der Versuch, sie alle zu übersetzen, würde ewig dauern.«
Sie hatte Recht, was das Erstere betraf. Sie glichen tatsächlich den Bildern, die sie unter Tarras gefunden hatten: stilisierte Symbole, nicht ganz Kunst und nicht ganz Schrift, sondern ein Mittelding. Aber es würde nicht lange dauern, sie zu übersetzen, denn Travis verstand die Symbole so mühelos, als wären sie Strichmännchen, die wie Pantomimen ein Theaterstück aufführten. Als Ti'an ihn in ihren Bann geschlagen hatte, hatte sie ihm mehr als gedacht gegeben. Oder war es etwas anderes? War es die Luft dieses Ortes, die ihm die Bedeutung dieser Symbole übermittelte, so wie sie auch die Handlungen, ja selbst die Gefühle der anderen übermittelte? Er konnte Graces scharfe Neugier hinter sich spüren und Farrs noch drängenderes Verlangen nach Wissen.
»Travis?«, sagte Grace, und er spürte eher, dass sie einen Schritt näher kam, als dass er es sah.
»Ich kann es lesen, Grace.« Seine Hände fühlten sich heiß an, und die Bilder schienen zu schimmern, wenn er mit den Fingern darüber fuhr. Er berührte zwei Strichmännchen, die nebeneinander standen. Vom Arm des einen fielen kleine Punkte, während das andere einen Krummdolch hielt. »Irgendwie kann ich alles lesen.«
»Vielleicht, weil er es geschrieben hat«, sagte Larad, und obwohl Travis ihm den Rücken zukehrte, wusste er, dass der Runenmeister auf den Thron zeigte.
Nein, das war es nicht. Hier waren noch mehr Symbole. Das eine Strichmännchen saß auf einem Stuhl. Das andere stand hinter ihm, noch immer das Messer in der Hand. »Das war sie«, sagte er. »Ti'an. Sie hat das alles erschaffen.«
Er ging nach links, strich über die Wand, ging zurück zum Anfang.
»Hier ist er – König Orú. Aber da war er noch kein König Morindu war noch nicht erbaut worden. Es waren nur er und sein Stamm in der Wüste. Und dann …« Ein Fieber schien Travis zu überfallen. Seine Blicke tranken die Bedeutung der Symbole schneller, als es möglich erschien. Er rannte die Wand entlang, jetzt nach rechts, seine Finger glitten über die Steine. »Dann kamen sie. Es waren Dreizehn. Sie hörten auf seinen Ruf, und sie waren mächtig. Mächtiger als alle, die zuvor gekommen waren. Er nahm sie … nahm sie in sich auf, und …« Travis hielt inne, dann drehte er sich um und betrachtete den Rest der Symbole, die ringsum die Kammerwände bedeckten. »Oh«, sagte er.
Farr trug einen eifrigen, hungrigen Ausdruck im Gesicht. »Was? Was sagen die Symbole? Ich kann sie nicht lesen.«
Travis kehrte mit zittrigen Beinen zu der auf dem Thron angeketteten Mumie zurück. »Er kannte sie. König Orú. Er kannte die Antwort.«
»Die Antwort worauf?«, fragte Vani. Sie hatte Nim die Hände auf die Schultern gelegt.
Travis' Gedanken rasten. In ihm stiegen Hitzewellen auf. »Erinnert Ihr Euch an die Geschichte, die Ihr uns erzählt habt, Farr? Die mit den Zwillingen, die am Anfang vom allen aus dem Nichts geboren wurden – der eine hell, der andere dunkel. Nun, sie kommen wieder zusammen, kämpfen miteinander. Das verursacht die Risse am Himmel. Aber die Zwillinge wollen einander nicht töten.«
Farrs Blick war starr auf ihn fixiert. »Was wollen Sie dann?«
»Sie versuchen einander zu retten.«
Alle starrten ihn an. Travis drehte sich um. Hier, genau in der Mitte der Kammer, konnte er die Geschichte sehen, wie sie sich ihm ganz erschloss.
Es begann nicht lange nach den ersten Tagen von Amún. Rechteckige Symbole wiesen auf Türme und Zikkurats hin, die sich an den Fluten des Flusses Emyr aus der Wüste erhoben. Die große Stadt Usyr war eine von ihnen, genau wie die anderen Stadtstaaten – aber nicht Morindu. Zu dieser Zeit war Orú weder Gott noch König, sondern der Anführer des Nomadenstammes, der als Erster die körperlosen Geister namens Morndari entdeckt und Blutopfer dargebracht hatte, um die Geister dazu zu verlocken, ihre Befehle zu befolgen. Im Laufe der Zeit wurden andere Stämme geschickter darin, den Geistern zu befehlen; sie waren die ersten Städtebauer. Und der Stamm, der die Morndari entdeckt hatte, schien zum Aussterben verdammt.
Dann kam Orú zur Welt. Ein Seher verkündete, dass er zu einem großen Zauberer bestimmt war, und so fütterte ihn seine Mutter als Säugling statt mit ihrer Milch mit Blut. Der Seher hatte die Wahrheit verkündet, und schon
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