Die letzte Rune 12 - Die letzte Schlacht
Der Schmerz wurde erträglicher, auch wenn er nicht ganz verschwand.
Ich brauchte eine Stunde, um ihr Grab zu finden. In der kleinen Notiz auf der Flugschrift hatte nicht gestanden, in welchem Teil der Kirche sie beigesetzt worden war, nur dass man sie als Freundlichkeit gegenüber Lord Faraday hier zur letzten Ruhe gebettet hatte, der seinem Land so gut im Parlament gedient hatte. Ich wanderte durch das Kirchenschiff und den Altarraum, dann die beiden Querschiffe, schaute in jede Ecke, suchte nach einem Grabstein, der neuer als die um ihn herum war.
Schließlich fand ich ihn, an einem Ort, wo ich zuerst hätte nachsehen sollen, am Rand des Kreuzgangs, nicht weit von Sir Talbot und Lady Ackroyd. Der Stein war klein und schlicht, dort standen nur ihr Name und die Daten ihrer Geburt und ihres Todes. Ich kniete nieder, aber ich hatte weder Papier noch Kohle, um ihn durchzupausen, und so drückte ich die Hände auf den Stein, als wollte ich die Worte stattdessen in mein Fleisch einprägen.
»Hallo, meine Geliebte«, murmelte ich, und ich fragte mich, ob sie nicht meine Worte hören konnte, genau wie die in der Flüstergalerie. »Es ist dein Marius. Bitte, Geliebte – du darfst mir nicht verzeihen, was ich getan habe. Wünsch mir nur Lebewohl. Denn sicherlich werden du und ich uns niemals wiedersehen, denn ich gehöre in keinen Himmel, der Menschen wie dich aufnimmt.«
Dann wollte ich gehen. Mein Kopf schmerzte zwar, war aber seit Wochen das erste Mal vom Whiskynebel befreit, und endlich stellte ich mich dem Wissen, das ich die ganze Zeit mit dem Alkohol betäubt hatte.
Es war mein Fehler, dass Alis gestorben war.
»Ist das so?«, sagte eine leise Stimme hinter mir. »Ist das wirklich Euer Fehler?«
Hatte ich meine Qual laut ausgesprochen? Ich drehte mich um und sah dort eine Frau stehen. Sie trug das fließende schwarze Gewand einer Trauernden. Ihre geschmeidige Figur verlieh ihr eine jugendliche Aura, aber sie stützte sich auf einen Stock, und ein Schleier verhüllte ihr Gesicht.
»Habt Ihr sie gekannt?«, fragte ich, obwohl es mir schwer fiel, überhaupt etwas zu sagen.
»Nicht so, wie Ihr sie gekannt habt, Marius.«
Sie hob den Schleier. Ihr Gesicht war so bleich und hell wie in jener Nacht in der Schenke, aber die Schatten in ihren eingefallenen Wangen waren dunkler als zuvor.
»Warum gebt Ihr Euch die Schuld, Marius?«, fragte die Elfe.
Ich wandte mich ab. »Ich habe es ihr nicht gesagt.« Trauer riss die Worte in heiserem Schluchzen aus mir heraus. »Ich habe ihr nicht verraten, wer ich wirklich bin. Es war meine Aufgabe, sie zu beobachten, um zu sehen, ob sie ihre wahre Natur selbst herausfindet. Aber das hat sie nicht, und jetzt ist sie tot.«
Hinter mir raschelte Stoff. »Wir alle müssen einmal sterben, Marius. Ihre Art, unsere Art. Ihr hättet daran nichts ändern können.«
»Aber es hätte nicht so früh sein müssen! Ich hätte sie in die Schenke bringen können, ihr hättet ihr helfen können. Sie hätte noch viele Jahre leben können.«
Die Frau seufzte. »Vielleicht hätte sie leben können. Voller Qualen und Leid. Denn sie hielt sich für das Kind von Lord und Lady Faraday, und nicht für … einen Wechselbalg, ein Wesen aus einer Legende. Vielleicht hätte das Wissen, wer sie wirklich war, ihr nur Leid statt Trost gebracht. Und selbst wenn nicht, warum schreibt Ihr Euch die ganze Schuld zu? Wussten nicht die, denen Ihr dient, schon vor Euch von ihrer wahren Natur?«
Ein Eissplitter schien mein Herz zu durchbohren. Ja, sie hatten die ganze Zeit gewusst, was sie war, aber sie hatten nur zusehen wollen, während sie immer kränker wurde, und ihr nicht helfen. Die Philosophen. Und woher hatten sie überhaupt wissen können, dass Alis ein Wechselbalg war?
Aber da waren … andere, von außerhalb, die sie überzeugten, es zu versuchen …
Ich konnte kaum klar sehen, als mir etwas Weiches in die Hand gedrückt wurde. »Trocknet Eure Tränen, Marius.« Die Stimme der Frau war jetzt so hart und klar wie Glas. »Es wird Alis keine Ehre machen, wenn Ihr Euer Leben einfach fortwerft. Wenn Ihr ihr jetzt dienen wollt, dann vergesst nicht das Geschenk, das wir Euch gegeben haben …«
Ihr Kleid raschelte. Dann war sie wie ein vorbeistreichender Schatten verschwunden, und ich wusste, ich würde sie nie wiedersehen. Ich schaute nach unten. In meinen Händen hielt ich das Silbertuch, das ich meiner Mutter abgenommen und Alis bei St. Paul's gegeben hatte. Wie immer wies es weder eine Falte noch
Weitere Kostenlose Bücher