Die letzte Rune 12 - Die letzte Schlacht
»Was ist passiert? Wo ist Byron?«
Ich schüttelte den Kopf, ging an ihr vorbei, durch das Tor, rannte die lange, von Bäumen gesäumte Allee zum Herrenhaus. Ich musste zu ihr. Ich musste Alis sehen. Ich griff in den Umhang, griff nach dem Tongefäß, wusste, dass die darin enthaltene Flüssigkeit sie beleben würde. Sie würde nicht ewig leben, das tat keiner von uns. Sie würde verblassen wie die wunderschöne namenlose Frau aus der Schenke. Aber nicht bevor sie und ich viele großartige Jahre miteinander geteilt haben würden, nicht bevor …
Oben auf der Treppe blieb ich stehen. An die Türklinke war eine schwarze Schleife gebunden. Sie flatterte im Wind, und endlich verstand ich, warum Byron mich gesucht hatte, warum Rebecca mich vorbeigelassen hatte.
Das Tongefäß entglitt meinen Fingern und zersplitterte auf den Stufen. Grüne Flüssigkeit sickerte über den Stein, und mir entfuhr ein leiser Seufzer, wie der letzte Atemzug eines Sterbenden.
Ich glaube, danach verlor ich eine Zeit lang den Verstand, denn ich kann mich nur an wenig erinnern, was in den folgenden Tagen und Wochen geschah.
Ich trank viel, so viel weiß ich. Ich fiel in meine alten Gewohnheiten zurück, leerte eine Flasche Whisky und verlor das Bewusstsein, und wenn ich mit pochendem Schädel erwachte, schlich ich mich hinaus auf der Suche nach der nächsten Flasche. Mehr als einmal fand man mich betrunken auf dem Gelände der neuen St.-Paul's-Kathedrale, wo ich nach Alis rief, und die Soldaten des Königs schleppten mich nach Hause und einmal – da sie mich nicht als Adligen erkannten – in den Schuldturm, wo ich fünf Tage und Nächte in einer dreckigen Zelle zitterte und mir nicht einmal die Mühe machte, die Ratten zu verscheuchen, die sich heranwagten, um mir in die Beine zu beißen.
Rebecca holte mich aus dem Gefängnis, an so viel kann ich mich noch dunkel erinnern, und sie brachte mich zurück in mein Haus. Ich erinnere mich auch, dass sie mir Fragenüber Byron stellte. Die Sucher hatten ihn tot aufgefunden, im Dorf Brixistane, südlich vom Fluss. Sie sagte, man hätte ihn ausgeschickt, um mir zu folgen; sicherlich war ich der Letzte, der ihn lebend gesehen hatte, und sie wollte wissen, warum er gestorben war, wo doch sein Körper nicht die geringste Verletzung aufwies. Aber das hätte ich ihr nicht einmal dann beantworten können, wenn ich es gewollt hätte. Nichts von dem, was in dieser Nacht in dieser Schenke geschehen war, hatte im Reich der Vernunft stattgefunden, und die einzigen Worte, die ich an Rebecca wendete, war die Bitte nach mehr Whisky. Sie ging zornig und angeekelt.
Der März wich dem grünen April. In seltenen klaren Augenblicken kam mir der Gedanke, Lord und Lady Faraday einen Besuch abstatten zu müssen, aber ich trank zuerst ein Glas, um meine Nerven zu stärken, und dann ein weiteres, und dann wachte ich auf dem Boden auf, und mein Kopf fühlte sich an, als hätte jemand meine Schläfen mit dem Hammer bearbeitet. Ich dachte auch darüber nach, nach Schottland zurückzukehren. Es trafen wieder Briefe von Madstone Hall ein, die sich auf meinem Schreibtisch stapelten. Ich entschloss mich, sie zu lesen, aber stets führte das Glas, das nötig war, um meinen Verstand zu klären, zu vielen weiteren, die ihn wieder benebelten, und die Briefe blieben ungeöffnet. Richard Mayburn besuchte mich, dann Rebecca, aber obwohl ich sie keineswegs abwies, hatte ich ihnen auch nichts zu sagen. Schließlich stellten sie die Besuche ein.
Ich glaube, mir selbst überlassen hätte ich mich zu Tode getrunken; das war jedenfalls mein Wunsch. Aber da gab es etwas, das mich daran hinderte, ganz aufzugeben – etwas, das ich noch erledigen musste. Am ersten Mai hob ich zufällig, als ich auf der Suche nach neuem Grog aus dem Haus taumelte, eine zerknüllte Flugschrift auf, die in der Gosse lag. Mein Blick fiel auf eine kleine, gedruckte Meldung, und ich wusste endlich, worauf ich gewartet hatte. Ich musste mich noch verabschieden.
Ich traf gegen Mittag bei der Westminster Abbey ein. Die Sonne schien hell, und ihre Strahlen bohrten sich in meinen Schädel und sandten Stiche durch mein Gehirn. Etwas zu trinken hätte geholfen, aber ich hatte unterwegs nicht angehalten, um einen Whisky zu kaufen, und ich hatte seit dem vorangegangenen Abend keinen Schluck mehr zu mir genommen, was eine längere Zeit war als viele Wochen zuvor. Aber als ich die Kirche betrat, waren die Stille und das Dämmerlicht wie ein Balsam für meinen Verstand.
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