Die letzte Rune 12 - Die letzte Schlacht
drehten sich um. Auf der anderen Seite der Brücke trat eine Frau aus der dreieckigen Öffnung der goldenen Pyramide. Sie erschien jung – nicht älter als fünfundzwanzig. Ein aus funkelnden Perlen geknüpftes Kleid floss über die Kurven ihres sinnlichen Körpers, ein roter Edelstein schmückte ihre Stirn. Ihr Haar und die Augen waren so schwarz wie Onyx, und ihre Haut wies einen tiefen Goldton auf.
Avhir stieß einen Fluch in einer uralten Sprache aus, und Travis brach der Schweiß aus, als wäre die Temperatur in der Kuppel plötzlich in die Höhe geschossen.
»Das kann nicht sein«, sagte Vani voller Ehrfurcht. »Und doch gibt es nur eine Frau, die dort hätte eintreten können. Ti'an.«
Farr warf ihr einen durchdringenden Blick zu. »Wer ist Ti'an?«
»Die Gemahlin des Gottkönigs Orú.«
Die Frau mit der goldenen Haut schritt über die Brücke auf sie zu.
8
Donner ließ die Schlagläden der Bibliotheksfenster erzittern, als Deirdre das Tagebuch schloss und sich in dem Stuhl zurücklehnte. Wie spät war es? Wie lange hatte sie die mit Albrechts eleganter Handschrift gefüllten Seiten gelesen und wieder gelesen? Der Tag schien dunkler geworden zu sein, und die Laterne warf nur noch einen flackernden Lichtkreis um den Tisch. Ihrem verkrampften Nacken und dem Hämmern in ihren Schläfen nach zu urteilen, waren Stunden vergangen. Aber das Nagen in ihrem Magen kam nicht vom Hunger.
»Es ist alles eine Lüge«, murmelte sie in das Zwielicht.
Alles, was man ihr über die Sucher beigebracht hatte, alles, an das sie geglaubt hatte, das Motto, das Buch und der Schwur, die Neun Desiderate, das alles war eine aufwendige, über Jahrhunderte hinweg aufrechterhaltene Täuschung, dazu geschaffen, dass die Sucher fleißig die Arbeit für die Philosophen erledigten, ohne jemals ihre wahre Natur zu erfahren – oder gar zu erahnen.
Wir sind Marionetten. Seit Jahrhunderten ziehen sie an unseren Fäden. Wir haben ihre Arbeit gemacht und ihnen dabei geholfen, näher an ihr magisches Elixier heranzukommen – ein Trank, der ihnen die wahre Unsterblichkeit gewährt. Und jetzt haben sie es fast geschafft.
Wut stieg in ihr auf, wurde aber von einer Woge der Übelkeit überspült. Auf diese Weise verraten zu werden – das war wie die Entdeckung, dass die Erde doch eine Scheibe und die Sonne ein glühendes, kaum fünfhundert Meilen weit entferntes Stück Kohle war. Die Lüge hatte so viel mehr Sinn ergeben als die Realität, die man ihr enthüllt hatte, doch so sehr sie sich danach sehnte, dieses Wissen wieder genommen zu bekommen, war das unmöglich. Sie konnte nicht mehr zurück. Wissen war ein Messer, das tief schnitt und dessen Wunden niemals heilten. Die Philosophen waren Scharlatane, nichts weiter.
Nur mit der Ausnahme, dass er anders als die anderen war. Marius.
Deirdre strich mit einer zitternden Hand über das Tagebuch. Sie hatte die letzten Zeilen so oft gelesen, dass sie die Seite nicht mehr aufschlagen musste, um sie zu sehen. Sie waren in ihren Verstand eingebrannt.
Jetzt wissen Sie, was keiner außer unserer Art je gewusst hat. Jetzt kennen Sie die Wahrheit über die Herkunft der Philosophen.
Und ich bitte Sie, helfen Sie mir jetzt, sie zur Strecke zu bringen …
In über drei Jahrhunderten der Existenz hatte er den Philosophen nie verziehen, wie sie ihn benutzt hatten, wie sie Alis Faraday benutzt hatten, wie sie die Halbelfen im Greenfellow's benutzt hatten. Aber indem er zu einem Philosophen wurde, hatte er sich, ohne es zu wollen, an sie gekettet und hatte darum keine Rache an ihnen üben können. Bis jetzt. Er hatte Deirdre hergeführt, weil er glaubte, dass sie ihm helfen konnte. Aber warum sie? Und warum jetzt?
Deirdre wusste es nicht. Sie wusste nur, dass die Philosophen nicht besser als Duratek waren. Nein, sie waren schlimmer. Sie hatten die Gäste der Schenke benutzt, und als sie mit ihnen fertig waren, hatten sie sie im Stich gelassen, sie für ihre Hilfe und ihr Blut mit Armut und Leid bezahlt.
Sie berührte den Silberring an ihrer Hand, dann wischte sie sich heiße Tränen von den Wangen. In dem Tagebuch hatte so viel gestanden, das man erst verstehen musste. Die Philosophen waren unsterblich – zumindest solange sie in regelmäßigen Abständen nach Kreta zurückkehrten und das Blut der Schläfer tranken. Dass es sich bei den Schläfern um die sieben Zauberer-Priester von Orú handelte, da hatte Deirdre nicht die geringsten Zweifel; es stimmte alles zu perfekt mit dem überein, was
Weitere Kostenlose Bücher