Die letzte Schlacht
will, dann musst du die Welt so sehen, wie sie wirklich ist. Mit Moral allein kann man nicht überleben.«
Danach ließen sie ihn allein. Hesther, Aurelius und die jungen Aufgestiegenen. Sie überließen es ihm, zu grübeln und einen dunklen Winkel in seinem Kopf zu finden, in den er sich verkriechen konnte.
»Glaubst du das wirklich, Mutter? All das Gerede über die Tsardonier, die Toten und Gorian Westfallen?«
Die Kutsche klapperte auf der Straße am Solastrosee entlang, um den Hafen zu erreichen. Mit einem Boot würden sie dann nach Südosten auf dem Fluss Solas weiterfahren. Es regnete wie so oft in diesem fruchtbaren grünen Land inmitten der Berge.
Herine Del Aglios hatte kaum geschlafen. Botschaften waren im Palast eingetroffen – eigentlich kaum mehr als Gerüchte, doch die Wachfeuer waren entzündet, und auf den Gipfeln hatten die Wachtürme die Fahnen gehisst. Wie es schien, war die ganze Konkordanz in heller Aufregung. Erstaunlich, wie schnell sich die Gerüchte verbreiteten. Vögel flogen, Menschen riefen einander über Täler hinweg etwas zu, Pferde galoppierten bis zum Umfallen. Jeder Bürger hatte den Wunsch, der Erste zu sein, der wichtige Neuigkeiten möglichst vielen anderen weitererzählte.
Das bedeutete, dass den Worten, die ihr schließlich zu Ohren kamen, kaum zu trauen war. Es sei denn, man war bereits eingeweiht. Die Leute redeten über wandelnde Tote und den Verrat des Aufstiegs. Letzteres war zweifellos eine Lüge, die auf die Kappe der Kanzlerin ging, auch wenn ihr eine traurige Wahrheit zugrunde lag. Gosländer hatten berichtet, ihren Grenzen nähere sich eine tsardonische Armee.
Herine wusste bereits, dass an Atreskas Grenzen eine beträchtliche Streitmacht aufmarschiert war, weil Megan Hanev sie vor ihrer Reise nach Solastro selbst gesehen hatte. Den Gerüchten nach hatte die Invasion begonnen. Megan hielt das zwar für unwahrscheinlich, da General Davarov die Grenze sicherte, doch Herine gingen immer wieder die Worte in Robertos Brief durch den Kopf. Kein Rauch ohne Feuer.
Außerdem gab es Gerüchte, dass Gestern von einer Seuche heimgesucht würde. Katrin Mardovs Abwesenheit bei der Sitzung des Senats hatte bereits Anlass zu großer Sorge gegeben. Diese Gerüchte verstärkten die Befürchtungen noch. Hinzu kamen noch die Hinweise des Karku Harban auf Experimente diesseits der Grenze von Gestern.
»Unbedingt«, sagte Herine. »Du warst noch klein, als die Aufgestiegenen an Bedeutung gewannen, und deine Erinnerungen sind vielleicht nicht ganz klar. Im letzten Jahrzehnt hatte ich sie jedoch in meiner Nähe und konnte beobachten, wie sie sich entwickeln. Sie halten Gorian für eine Bedrohung und denken, das Gerede über wandelnde Tote hätte eine Grundlage. Dein Bruder macht sich Sorgen wegen einer tsardonischen Invasion, und ich bin schon viel zu lange im Amt, um seine Befürchtungen einfach in den Wind zu schlagen.
Aber darum geht es doch nicht, meine Liebe, nicht wahr? Wir müssen die Papiere, die du in Händen hältst, Elise Kastenas übergeben und sehen, ob sie damit eine brauchbare Verteidigung aufbauen kann.«
Tuline umklammerte die Ledermappe mit den letzten Zahlen über die Legionsstärken, als hinge ihr Leben davon ab.
»Du kannst das ruhig zur Seite legen«, fuhr Herine fort. »Ich werde sie dir nicht stehlen. Versprochen.«
Lächelnd legte Tuline die Mappe neben sich auf den Sitz. Beide wussten, dass sie die Papiere bald wieder an sich nehmen würde.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Tuline. »Sollten wir die Entscheidungen nicht einfach hier treffen? Wir werden erst in neun oder zehn Tagen in Estorr ankommen. Wird das nicht zu spät sein?«
»Wir wollen doch nicht hoffen, dass wir auf die Feinde stoßen, ehe wir den Hügel erreichen.« Nachsichtig tätschelte sie Tulines Hand. »Nein. Du musst verstehen, dass ein Heer eine ganze Weile braucht, um durch ein Land zu marschieren oder ein Meer zu überqueren, und du musst wissen, was die Befehle unserer Legionen zu bedeuten haben.«
»Ja, aber viele von ihnen treten doch gar nicht erst an.«
»Nein.« Nicht zum ersten Mal versetzte der Gedanke an diesen Verrat Herine einen Stich. »Das ist ein weiterer Grund dafür, dass wir vorsichtig sein müssen. Uns stehen für die Verteidigung der Konkordanz weniger Legionen als erwartet zur Verfügung, und wir müssen aufpassen, dass uns niemand in den Rücken fällt. Auch sollten wir uns überlegen, wo wir unsere Kräfte stationieren, sobald wir die Tsardonier mit
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