Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzte Schoepfung

Die letzte Schoepfung

Titel: Die letzte Schoepfung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Lewin
Vom Netzwerk:
Bewegungen von einer Position in die nächste über.
    Tai Chi.
    Eine Bewegungsmeditation, wie Ethan es nannte. In China versammelten sich bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang tausende von Menschen in Parks und auf Plätzen, um dieses uralte Ritual zu zelebrieren, und obwohl die Bewegungen ganz einfach aussahen, brauchte man Jahre, um sie zu vervollkommnen. Ethan hatte es einst Nicky gelehrt. Auch Sydney wollte er es beibringen, aber irgendwie hatten sie nie die Zeit gefunden. Um die Wahrheit zu sagen: Sydney hatte es nicht lernen wollen. Es hatte ihr Freude gemacht, Vater und Sohn dabei zu beobachten – die langsamen Bewegungen und die Konzentration auf ihren Gesichtern.
    Nun sah sie Ethan dieselben Bewegungen vollführen, doch sie waren viel intensiver als früher mit Nicky. Sydney spürte Ethans Zorn in jeder Handbewegung. Und in einer Woge des Schuldbewusstseins fühlte sie seine Qual, die nichts mit der Schusswunde an seinem Arm zu tun hatte.
    In all der Zeit, seit Ethan sie verlassen hatte, hatte sie sich kein einziges Mal gefragt, was er fühlte, oder die Schuld zu ermessen versucht, mit der er zu leben hatte. Sie hatte sich Vorwürfe gemacht, Nickys Tod nicht verhindert zu haben, hatte sich im Nachhinein gewünscht, sie wäre an diesem Tag mit Mann und Sohn mitgefahren. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Aber wenn sie sich schon mit solchen Gedanken quälte, wie musste dann erst Ethan zu Mute sein? Er hatte sein Leben dem Schutz der Schwächeren gewidmet, zuerst als Soldat, dann als Offizier beim Geheimdienst. Doch den eigenen Sohn hatte er nicht beschützen können. Ethan war bei Nicky gewesen, als er starb, ihre Schuld hingegen lag nur in ihrer Abwesenheit.
    Plötzlich fühlte Sydney, wie eine kleine Hand in die ihre geschoben wurde.
    Erschrocken wollte sie die Hand wegziehen, bemerkte dann aber, dass es Callie war, die lautlos neben ihr aufgetaucht war. »Ich dachte, du schläfst«, sagte Sydney mit gedämpfter Stimme, um Danny nicht zu wecken.
    Callie lächelte schüchtern. »Ich bin wach geworden.«
    Sydney nickte, ein wenig entmutigt von der Gegenwart des Kindes. »Ich auch.« Sie wandte sich wieder dem Fenster und dem Mann draußen zu, obwohl ihre Aufmerksamkeit nun voll und ganz dem kleinen Mädchen neben ihr galt.
    Als sie Callies Hand in der ihren hielt, spürte Sydney, wie längst vergrabene Gefühle in ihr aufstiegen. Es war lange her, dass ein Kind sie auf diese Art berührt hatte, so einfach und vertrauensvoll.
    »Er macht es wirklich gut«, sagte Callie. Offenbar meinte sie Ethan.
    »Ja«, erwiderte Sydney, dankbar für jede Ablenkung. Selbst wenn die Ablenkung Ethan hieß. »Weißt du etwas über Tai Chi, Callie?«
    »Ich hab immer den anderen zugeguckt.«
    Sydney sah sie forschend an. »Den anderen?«
    »Den anderen Kindern auf Haven. Die fangen jeden Morgen mit Tai-Chi-Übungen an. Ich schaue ihnen von meinem Fenster aus zu.« Ihr Lächeln wirkte wehmütig.
    »Warum hast du denn nicht mitgemacht?«
    Callie hob die schmalen Schultern in einem resignierten Achselzucken. »Ich bin zu oft krank.«
    »Wirklich?« Besorgt setzte Sydney sich auf eine Sessellehne und drehte das Mädchen zu sich um. Mit dem Auge der Ärztin untersuchte sie das Kind. Es war ein wenig zu dünn, aber das mochte nichts zu bedeuten haben. Die Augen blickten klar, die Haut sah weich und gesund aus, wenn auch ein bisschen zu warm – aber das konnte vom Schlaf herrühren. Äußerlich konnte Sydney keine Krankheitszeichen an Callie entdecken. Das Aussehen konnte zwar täuschen, aber eine so ernsthafte Krankheit, die Callies Teilnahme an einer Entspannungsübung wie Tai Chi nicht erlaubte, musste doch irgendwie zu erkennen sein.
    »Fühlst du dich jetzt krank?«, erkundigte Sydney sich erstaunt.
    »Mir geht's ganz gut, bin nur ein bisschen müde.«
    Nicht gerade überraschend nach dem, was das Mädchen in den letzten Tagen durchgemacht hatte. Sydney erwog, das Thema fallen zu lassen. Immerhin war sie für Callie nicht verantwortlich – doch die Ärztin und Mutter in ihr konnte die Möglichkeit, dass das Mädchen krank war, nicht einfach ignorieren.
    »Gibt es einen Grund, warum du krank wirst, Callie? Hast du Allergien oder so was, das ich wissen müsste?« Sie rieb die dünnen Arme des Mädchens und nahm die kleinen Hände. »Du weißt doch, dass ich Ärztin bin? Ich habe mich viel um Kinder wie dich gekümmert.«
    »O ja.« Callie nickte eifrig. »Das hat Ethan uns erzählt. Er hat gesagt, Sie wären die beste

Weitere Kostenlose Bücher