Die letzte Schoepfung
andere Interessen – die Avery ohne zu zögern bloßstellen würde, falls die Burschen ihm zu sehr in die Quere kamen. Und eine Bloßstellung konnte sich keiner leisten. Schließlich war Washington eine Bastion der alten Seilschaften.
Gab es vielleicht noch einen anderen unbekannten Mitspieler, den Avery übersehen hatte? Jemand, der hinter dem Senatsausschuss die Fäden zog? Ein Mann mit Geld, der Einfluss auf die Senatoren hatte? Niemand konnte in den US-Senat einziehen, ohne dafür Hilfe in Anspruch genommen zu haben, ohne danach ein oder zwei Leuten einen Gefallen zu schulden. Und nach Averys Erfahrung bedeuteten Menschen, die nicht auf der Bühne des politischen Tagesgeschehens standen, eine größere Bedrohung als jene, die stets nach der Gunst der Wähler schielen mussten. Dass ein solcher Mann – oder Männer – etwas über Haven wissen konnte, machte ihm schwer zu schaffen: Das hieß, dass die Situation außer Kontrolle geraten war. Das heutige Scharmützel war nur eine Vorwarnung gewesen.
Dieser verdammte Morrow! Wenn er sämtliche Chancen verspielt hatte, der Kinder habhaft zu werden, würde Avery ihm den Kopf abreißen.
Sein Interkom summte.
»Entschuldigen Sie, Mr. Cox.« Die Stimme seiner Assistentin klang leicht nervös. »John Morrow ist auf Leitung drei.« Die Frau hatte täglich mit gefährlichen und mächtigen Männern zu tun, aber Morrow machte sie wirklich nervös – und mit diesem Gefühl stand sie nicht allein. Morrow schüchterte selbst die härtesten Männer in Averys Stab ein, eine Eigenschaft, die Avery durchaus schätzte. Normalerweise.
»Sorgen Sie dafür, dass wir nicht gestört werden.« Er unterbrach die Verbindung mit seiner Assistentin und schaltete auf Leitung drei. »Es wäre besser für Sie, wenn Sie gute Nachrichten haben.«
Nach einem winzigen Moment des Schweigens erwiderte Morrow: »Schalten Sie den Lautsprecher aus.«
Avery grinste verhalten, gestattete Morrow den kleinen Sieg und nahm den Hörer ab. »Jetzt sagen Sie schon, dass Sie gute Nachrichten haben.«
»Sie wollen also, dass ich lüge.«
»Was ist denn passiert?«
»Wir haben nicht damit gerechnet, dass Deckers Exfrau die Cops ruft.«
»Und ihr habt die Frau entkommen lassen.« Avery konnte seine Wut kaum bezwingen, ermahnte sich aber, dass er Morrow noch eine Weile brauchen würde. »Und dabei wurden zwei Polizisten getötet.«
»Wir konnten es nicht verhindern.«
Da hatte Avery seine Zweifel. »Halb Texas sucht jetzt nach ihnen.« Unter anderen Umständen hätte es ihn vielleicht gefreut, dass der hochkarätige Exagent Decker nun wegen Mordes gesucht wurde, doch im Augenblick konnte die Einmischung der Polizei nur hinderlich sein. Es stand zu viel auf dem Spiel, als dass Avery sich seinem Privatvergnügen hingeben konnte. Denn keinesfalls wollte er die Zukunft des Haven-Projektes riskieren und jegliche Kontrolle des SCTC abwehren. »Das darf nicht auf uns zurückfallen!«
»Wir haben die Wohnung gründlich gereinigt.« In Morrows Worten schwang Ärger mit. Er mochte es nicht, seine Handlungen rechtfertigen zu müssen. »Decker ist der einzige Verdächtige. Wenn die Polizei ihn schnappt…«
»Das wird sie nicht.« Es sei denn, sie hätte ungewöhnliches Glück oder Decker baute ungewöhnlichen Mist, doch Avery hielt weder das eine noch das andere für wahrscheinlich. Nein, er fürchtete nicht, dass Decker bald in einer Zelle landen würde. »Er wird so geschickt untertauchen, dass selbst wir ihn nicht mehr finden.« Bis er wieder auftauchte, um Avery und seine Organisation zu Fall zu bringen.
»Er hat die Frau bei sich«, berichtete Morrow.
»Ich habe die Nachrichten bereits gehört!«, fuhr Avery ihn an. Sydney Decker war ein weiterer Unsicherheitsfaktor. »Und diese Frau ist mir verdammt egal!«
»Sie wird aber nicht einfach untertauchen wollen. Früher oder später zeigt sie sich, und dann ist Decker auch nicht mehr weit.«
»Wie wollen Sie da sicher sein?«
»Nennen Sie es eine begründete Vermutung. Wir kriegen Decker schon«, meinte Morrow. »Und auch die Kinder.«
»Ja, die Kinder dürfen wir keinesfalls vergessen.« Morrow wusste offenbar nicht mehr, was wirklich wichtig war. »Um sie geht es vor allen Dingen, nicht um Ihre persönliche Vendetta gegen Decker.«
Morrow gab keine Antwort. Eine seiner verdammten schlechten Angewohnheiten. Deshalb erkannte Avery sofort, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Morrows Hass auf Decker stammte noch von dem Fiasko mit Ramirez.
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