Die Letzte Spur
Victor Jones aus Kingston St. Mary erschien noch hin und wieder – aus reinem Mitleid, da machte sich Geoffrey nichts vor.
»Wer ist es denn?«, fragte er, nachdem er sich von seiner Überraschung ein wenig erholt hatte.
Die Schwester, eine von den Netten, lächelte. Sie schien sich aufrichtig für ihn zu freuen. »Ein Mr. Jones und eine Mrs. Hamilton«, sagte sie, »beide warten unten im Aufenthaltsraum.«
Sieh an, dachte Geoff, die Jones-Geschwister! Cedric und Rosanna. Ewig nicht mehr gesehen. Und plötzlich tauchen sie hier bei mir auf.
Er wusste, dass Rosanna in Gibraltar verheiratet war – wie sollte er das auch je vergessen? War es doch ihre Hochzeit seinerzeit gewesen, zu der Elaine unbedingt hatte reisen wollen. Ihre letzte Spur verlor sich auf dem Flughafen London-Heathrow. Später hatte niemand sie je wieder gesehen.
Und Cedric lebte seit langem in New York, kam kaum je nach England zurück. Seltsam, dass sie nun beide auf einmal in Taunton standen und nichts Besseres zu tun hatten, als den alten Freund aus Kinder- und Jugendtagen zu besuchen, dem das Schicksal so übel mitgespielt hatte.
Für eine Sekunde spürte er die Versuchung, die Schwester zu bitten, seine ungeladenen Gäste wieder nach Hause zu schicken. Ausgerechnet diese beiden! Der attraktive Cedric, der sein Leben zwar nicht so recht auf die Reihe brachte, dafür aber so unheimlich gut bei den Mädchen ankam. Und Rosanna, der er nie verzeihen würde, dass sie Elaine unbedingt zu ihrer Hochzeit hatte einladen müssen.
»Ich …«, setzte er an, aber die Schwester hatte bereits den Griff seines Rollstuhls gepackt und das Gefährt energisch herumgedreht.
»Nichts da!«, sagte sie. »Die beiden empfangen Sie jetzt!«
Sie musste seinem Gesicht angesehen haben, was in ihm vorging.
»Aber ich glaube, ich …«, versuchte er es noch einmal, während sie ihn bereits durch die Tür auf den Gang hinausschob.
»Sie müssen da jetzt durch!«, bestimmte sie, und plötzlich hasste er sie. Dafür, dass sie ihn dieser Begegnung aussetzte. Dafür, dass sie ihm sein Recht auf Selbstbestimmung so einfach entzog.
Und dabei meint sie es bloß gut, dachte er erschöpft.
Er hatte sich zunächst gesträubt, in das dem Heim schräg gegenüberliegende Cafe zu gehen, genau genommen: sich dorthin schieben zu lassen, aber Rosanna hatte in der gleichen freundlichen, unnachgiebigen Art, die die meisten der Schwestern hatten, darauf beharrt.
»Ich glaube, du brauchst mal ein bisschen frischen Wind um die Nase«, hatte sie gesagt und sich in dem Aufenthaltsraum umgesehen, unter dessen Neonlicht selbst die gesündesten Menschen krank aussahen, und dessen Linoleumfußboden dieselbe abstoßende Färbung altgewordener Magermilch hatte wie alle Fußböden im Haus. Zwar standen Blumentöpfe auf den Fensterbänken, und an den Wänden hingen Bilder, die von Patienten gemalt worden waren, aber die Atmosphäre blieb trist und der Raum das, was er war: der Aufenthaltsraum eines Pflegeheims für schwerbehinderte Menschen. Nicht gerade einladend.
»Man kann hier Kaffee bekommen«, hatte er gesagt, »und ihr könntet rasch etwas Kuchen kaufen, wenn ihr mögt …«
Aber Cedric, dem man das Unbehagen nur zu deutlich ansah, war schon aufgesprungen. »Tolle Idee«, hatte er gesagt, »Rosanna hat recht, Geoff. Du musst hier mal raus!«
Und nun saßen sie in dem Cafe, rührten in ihren Tassen und fühlten sich alle drei befangen. Geoffrey dankte seinem Schöpfer, dass er wenigstens seine Arme bewegen und selbstständig essen und trinken konnte, wenn auch etliche Brösel auf den Tisch und auf seinen Schoß fielen. Es gab andere im Heim, Tetraplegiker, die konnten buchstäblich nichts mehr, außer noch den Hals drehen. Sie mussten gefüttert werden wie Babys. Aber das hätte er nicht mit sich machen lassen. In diesem Fall hätte er sich mit Händen und Füßen gegen diesen blödsinnigen Ausflug gewehrt.
Mit Händen und Füßen, dachte er und hätte gelacht, wäre es nicht so traurig gewesen.
Cedric, den er immer wieder von der Seite betrachten musste, weil er so gesund, so kräftig, so gut aussah, berichtete ein wenig von New York, aber nicht fröhlich und locker, sondern in der verkrampften Art, die Geoffrey auch von anderen gesunden Menschen kannte: Sie wollten die Stimmung aufhellen, aber sie wussten, dass sie von einem Leben berichteten, das ihrem Gegenüber für immer verwehrt sein würde, und sie quälten sich in dem Spagat ab, etwas von ihrem Alltag zu schildern, ohne
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