Die Letzte Spur
Vegetierte ganz umsonst, wie ein Tier tief vergraben in einer dunklen Höhle, vor sich hin. Es mochte längst an der Zeit sein, dass sie die Vergangenheit abschüttelte und daranging, sich ein neues Leben aufzubauen.
Vielleicht sollte sie den ersten Schritt tun, indem sie die lächerliche Kommode wegrückte. Mr. Cadwick war nicht gefährlich, er war nur widerlich. Angestrengt lauschte sie, ob sie ihn unten in der Wohnung hörte, aber alles war still. Normalerweise wusste sie meist, wo er sich aufhielt, da sie sowohl seine schlurfenden Schritte als auch sein häufiges Räuspern deutlich mitbekam. Wenn kein einziger Laut ihn verriet, so wie jetzt, hegte sie stets die beklemmende Vorstellung, er könne sich auf Strümpfen durch das Treppenhaus geschlichen haben und sich auf dem Absatz vor ihrer Wohnung herumdrücken – in der Absicht vermutlich, irgendetwas von ihr mitzubekommen, woran er sich aufgeilen konnte.
Aber womöglich hingen solche Gedanken auch nur mit ihrer verrückten Angstneurose zusammen. Am Ende saß Mr. Cadwick einfach nur friedlich unten in einem Sessel und las Zeitung oder trank eine Tasse Tee. Und würde im Traum nicht daran denken, im Treppenhaus herumzuschleichen oder gar heimlich in die Wohnung seiner Mieterin einzudringen.
Trotzdem – sie konnte sich nicht überwinden, das Möbelstück zu entfernen. Sie brauchte diese Schranke, gegen Mr. Cadwick, gegen mögliche andere Gefahren und gegen ihre eigene Panik.
Noch weit entfernt von der Normalität, dachte sie.
Sie trat an eines der kleinen Fenster, die so schlecht schlossen und alle Wärme zuverlässig hinaus- und alle Kälte hereinließen, und blickte hinaus. Kein Mensch auf der Gasse und ein paar Schneeflocken in der Luft. Wie neulich nachts. Das Wetter änderte sich nicht. Kalt und grau. Von Frühling hier oben im Norden keine Spur.
Sie legte sich auf ihr Bett, starrte an die Decke und versuchte, Geräusche im Haus auszumachen und einzuordnen. Eine Gewohnheit, die ihr in Fleisch und Blut übergegangen war: immer wach sein, präsent sein, wissen, woran sie war, die Kontrolle behalten.
Irgendwann einmal konnte ihr Überleben davon abhängen.
Aber das Haus lag in völliger Stille, und über dieser Lautlosigkeit schlief sie schließlich ein.
3
Geoffrey Dawson war völlig perplex, als die Schwester in seinem Zimmer erschien und ihm mitteilte, dass Besuch für ihn da sei. Er bekam sehr selten Besuch, obwohl in der Gegend noch etliche Freunde und Bekannte von früher lebten. Anfangs hatten sie häufig nach ihm gesehen, in den ersten beiden Jahren nach dem Unfall. Dann war der Strom mitfühlender Menschen recht abrupt abgerissen – klar, wer hatte schon Lust, stundenlang neben einem Krüppel im Zimmer zu sitzen und sich dessen Leidensmiene anzusehen. Nach Elaines Verschwinden, als er in das Pflegeheim nach Taunton hatte umziehen müssen, war das Interesse an ihm wieder kurzfristig erwacht. Einigen mochte er wirklich leidgetan haben, weil er sein Zuhause verlor und weil sein ständiger Albtraum, das Heim, nun wahr wurde. Aber Geoff machte sich nichts vor: Die meisten hatte nur der Nervenkitzel gereizt. Elaines Verschwinden hatte Staub aufgewirbelt, und mancher mochte gehofft haben, von ihrem Bruder ein paar Details zu erfahren, die man der Presse nicht hatte entnehmen können. Außerdem genossen sie den Grusel des Pflegeheims. Die langen Gänge mit blank geputztem Linoleum, das ständige eingeschaltete Kunstlicht, die kleinen Zellen rechts und links, hinter denen die bedauernswerten Geschöpfe hausten, die hier ihr Leben verbringen mussten. Wer finanziell besser gestellt war, konnte auf ein Einzelzimmer hoffen. Geoff gehörte nicht dazu. Er teilte sich seinen Raum mit zwei anderen Männern, von denen der eine häufig wirres Zeug brabbelte und seine Mitbewohner damit halb zu Tode nervte.
Leider tatsächlich nur halb. Geoff dachte viel und ausgiebig über Selbstmord nach, aber ihm fiel keine Möglichkeit ein, die er aus eigener Kraft hätte bewerkstelligen können.
Jedenfalls waren Besuche zu einem seltenen Ereignis geworden. Von Elaine hatte seit fünf Jahren niemand etwas gehört, und inzwischen war jegliches Interesse an ihrem Schicksal erlahmt. Auch das Pflegeheim jagte niemandem mehr einen wohligen Schauer über den Rücken. Wozu sollte jemand seine Zeit opfern, um nach Geoffrey zu sehen, dessen Schicksal sich doch nicht änderte, so dass einem jedes tröstliche Wort – Wird schon wieder! – nur noch zynisch vorkam. Lediglich
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