Die Letzte Spur
Unweit von Marcs Wohnung gab es einen kleinen Park, den Rosanna sehr hübsch fand. Sie setzte sich auf eine Bank, starrte gedankenverloren auf das graugrüne Wasser eines Teichs. Der Park weckte Erinnerungen an Sommerabende in London. Die Hitze, die vom Asphalt aufstieg. Parks voller Spaziergänger, Skateboardfahrer, Menschen, die im Gras saßen und Eis aßen. Das Rascheln der Blätter dicht belaubter, riesiger Bäume. Über allem der Großstadtgeruch nach Benzin, Autoabgasen, Staub.
Es ist meine Stadt.
Sie hatte dies nie so klar gedacht wie in diesem Moment. Meine Stadt. Mein Leben. Wie viel Lebenszeit ließ sich ungestraft verschwenden, indem man sie auf eine Weise verbrachte, die nicht passte, die sich unstimmig anfühlte?
Ziemlich spät merkte sie, dass sie völlig ausgekühlt war. Sie stand rasch auf und machte sich auf den Heimweg.
In Marcs Wohnung zog sie sich sofort aus, duschte sehr heiß und sehr lang, nahm frische Wäsche, einen wärmeren Pullover und dicke Socken aus ihrem Koffer, zog sich wieder an. Sie schaltete den Fernseher ein, sah sich eine Seifenoper an, in der sich zwei Frauen wild um einen Mann zofften, der jung, schön und so beschränkt war, dass Rosanna ihn nicht geschenkt genommen hätte.
Es war halb fünf, als sie die Weinflasche aus Marcs Kühlschrank öffnete und sich ein großes Glas einschenkte.
Nach dem zweiten Glas war es fünf Uhr, und der Alkohol hatte ihre Skrupel so weit fortgespült, dass sie es wagte, das Schlafzimmer ihres Gastgebers zu betreten – in der Hoffnung, dort auf irgendetwas Persönliches zu stoßen, auf etwas, das ihr ein wenig Aufschluss über das Wesen dieses Mannes gab.
Auf den ersten Blick verriet es ihr kaum mehr als der Rest der Wohnung. Ein sehr niedriges Bett, breit genug, dass zwei Menschen darin Platz finden konnten, aber überschaubar genug, dass sich einer allein darin nicht verloren fühlen musste. Kein Nachttisch, nur eine Stehlampe auf der einen Seite. Am Fuß der Lampe etliche Zeitungen und Zeitschriften.
Ein großer, hellgrauer Kleiderschrank stand dem Fenster gegenüber, das, wie auch das Wohnzimmerfenster, nach vorn zur Straße hinausging.
Auf einem weiß lackierten Korbsessel in der Ecke hingen zwei Jeans und einige Pullover nachlässig über der Lehne.
Die Wand gegenüber dem Bett jedoch wurde fast in ihrer gesamten Breite von einem weißen Bücherregal eingenommen, und die ohne jede Ordnung dort zum Teil aufgereihten, zum Teil übereinander gestapelten Bücher stellten den ersten Hinweis darauf dar, dass Marc Reeve ein Leben jenseits seines Berufs und seines Büros hatte, und dass es Abende geben mochte, an denen er es sich daheim gemütlich machte, einen Wein trank und nach Herzenslust schmökerte.
Allerdings – eine Fotografie seines Sohnes fand sich auch im Schlafzimmer nicht.
Sie betrachtete die Bücher. Marc hatte eine eindeutige Vorliebe für historische Biografien, speziell über Persönlichkeiten der englischen Geschichte. Sie füllten den mit Abstand größten Teil des Regals. Allein Oliver Cromwell war viermal vertreten, Thomas Morus dreimal. Daneben gab es andere Geschichtsbücher, hierbei wiederum ein Übergewicht beim Thema Revolutionen: die Französische Revolution, die Russische Revolution, die Revolution in England. Etliche Bände über den Zweiten Weltkrieg. Ansonsten ein paar Kriminalromane von Dorothy Sayers und, darüber musste Rosanna grinsen, fast alles, was Stephen King je geschrieben hatte.
Sie nahm ein paar Bücher zur Hand, blätterte darin herum. Er war ein intensiver Leser und vermutlich ein Mehrfachleser, denn viele Bücher wirkten sehr abgegriffen. Hier und da hatte er in völlig unleserlicher Schrift mit Bleistift irgendwelche Kommentare an den Rand geschrieben. Vor allem aber hatte er die Angewohnheit, Briefe und Postkarten als Lesezeichen zu benutzen und später in dem jeweiligen Buch zu belassen. Es wimmelte in diesem Regal geradezu von Korrespondenz, und Rosanna wusste, dass sie an diesem Punkt spätestens mit dem Stöbern hätte aufhören und das Zimmer verlassen sollen. Dennoch überflog sie eine Postkarte, die sie in Dorothy Sayers' Aufruhr in Oxford gefunden hatte. Sie zeigte blaues Meer und eine idyllische Bucht mit weißem Strand und stammte aus der Provence.
» Lieber Marc, sind jetzt seit fast drei Wochen hier. Das Wetter ist ein Traum, die Strände sind leider recht voll, aber wir sind auf die Idee gekommen, uns ein Boot zu mieten und damit in entlegene Buchten zu fahren. Das Baden dort
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