Die Letzte Spur
macht riesigen Spaß. Wie geht es dir? Wir hören, dass es in England ständig regnet. Du hättest doch mit uns kommen sollen. Ferien allein daheim sind doch blöd. Vielleicht nächstes Mal…? Liebe Grüße von Ellen und Dan. «
Sie versuchte den Poststempel zu entziffern. August 2002. Das Jahr, in dem ihn seine Frau verlassen hatte. Sein erster Sommer nach der Trennung. Freunde hatten ihn in die Ferien mitnehmen wollen, er hatte offenbar abgelehnt. Die Geschichte mit Elaine lag zu diesem Zeitpunkt noch in der Zukunft. Hatten ihm Freunde auch danach noch aus seiner Einsamkeit zu helfen versucht? Oder hatte man allgemein eher die Finger von ihm gelassen? Immerhin hatte er auch einen beruflichen Einbruch erlitten. Manche mochten ihn nicht mehr so interessant, so reizvoll gefunden haben. Der Gewinnertyp war plötzlich zum Verlierer auf allen Ebenen geworden.
Sie stieß noch auf ein paar Rechnungen, Reklamezettel, den Bestellschein eines Pizza-Lieferservices. Marc hatte auf dem Zettel ein Kreuz hinter Pizza Diavolo gemacht, die als besonders scharf gepriesen wurde. Rosanna musste lächeln. Die hätte sie auch bestellt.
Sie griff nach einer der Cromwell-Biografien, und ein zusammengefalteter Brief fiel ihr entgegen. Entsetzt über sich selbst und ihr Verhalten, aber doch unfähig, in ihren Nachforschungen innezuhalten, faltete sie ihn auseinander. Rechts oben prangte in dicken Lettern der gedruckte Briefkopf eines Vereins: F.I.D. Fathers in Defense .
Es handelte sich um einen eingetragenen Verein.
Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Der Brief trug das Datum vom 25. November 2002. Einem Montag.
» Sehr geehrter Mr. Reeve «, lautete das Schreiben, » es hat mich außerordentlich gefreut, Sie am vergangenen Freitag auf der Party im Vino Veritas kennen gelernt zu haben. Ich glaube nicht, dass es ein Zufall war, der gerade uns beide auf einer Feier mit rund hundertfünfzig Gästen in einem Gespräch zusammengeführt hat. Schnell hat sich ja auch herausgestellt, dass wir beide das gleiche Problem haben.
Wie ich Ihnen ja schon sagte, wurde Fathers in Defense, oder kurz: F.I.D., vor fünf Jahren gegründet, und wir haben in dieser Zeit einen enormen Zuwachs an Mitgliedern zu verzeichnen gehabt. Männer, denen es so oder so ähnlich wie uns geht, Männer, die man von ihren Kindern getrennt und zu reinen Zahlvätern degradiert hat. Die in Anspruch genommen werden bis zum Weißbluten, denen man jedoch jede nur erdenkliche Schikane auferlegt, wenn es darum gebt, den Umgang mit ihren Kindern so gering wie möglich zu halten oder sogar völlig zu unterbinden.
Gemeinsam sind wir stark. Zumindest stärker, als es jeder von uns für sich allein wäre. Manches haben wir schon erreicht, vieles ist noch offen. Etlichen von uns helfen jedoch auch schon die Gespräche mit Leidensgenossen, der Austausch mit Menschen, die wirklich und aus eigener Erfahrung wissen, worum es geht.
Unser nächstes Treffen findet am kommenden Freitag, den 29. November, im unten näher beschriebenen Restaurant statt. Im Namen der anderen Mitglieder darf ich Sie herzlich dazu einladen. Ich muss sicher nicht betonen, wie sehr uns daran gelegen ist, gerade Juristen in unsere Mitte aufzunehmen.
In der Hoffnung auf eine positive Antwort verbleibe ich mit freundlichen Grüßen…«
Es folgten eine unleserliche Unterschrift, anschließend von Hand geschrieben ein Restaurantname und eine offenbar recht eilig gezeichnete Anfahrtsskizze.
Rosanna ließ den Brief sinken.
F. I.D.
Sie hatte von Gruppierungen dieser Art oft gehört. Als Journalistin hatte sie vor Jahren einmal ein Mitgliedertreffen besucht und darüber berichtet. Ihr war damals die echte Verzweiflung vieler Männer aufgefallen, der Schmerz, den ihnen die Trennung von ihren Kindern zufügte, aber auch die Empörung, die das Gefühl von Rechtlosigkeit in ihnen auslöste. Sie erinnerte sich, damals sehr betroffen gewesen zu sein. Sie hatte nicht den Eindruck gehabt, es mit Spinnern zu tun zu haben. Sondern mit zutiefst unglücklichen Menschen.
War Marc dieser Gruppe beigetreten? War die Abgeklärtheit, die er an den Tag zu legen schien, wenn die Sprache auf Josh kam, nur gespielt? Verbarg sich tagtäglich mühsam kontrollierte Verzweiflung dahinter? Waren die nüchterne Wohnung, der leere Kühlschrank, die bedrückende Einsamkeit, die seine privaten vier Wände atmete, Ausdruck eines tiefen Kummers, der ihn umfangen hielt?
Sie hörte das Geräusch von der Tür etwas zu spät. Es
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