Die Letzte Spur
fragte sich plötzlich, wie einsam er sich fühlen mochte, wenn er morgens hinter der Küchentheke stand und diese schnelle, traurige Mahlzeit einnahm. Sie bezweifelte, dass er sich dazu überhaupt hinsetzte. Ob er in diesen Momenten an die Familie dachte, die er einmal gehabt hatte? Eine Frau, die einen Tisch deckte. Ein Kind, das plapperte.
Er sprach so wenig davon, verschloss alle diesbezüglichen Empfindungen in sich. Aber wie schwer mochte der Verlust heute noch wiegen?
Sie öffnete den Kühlschrank. Er war trostlos karg bestückt. Eine angebrochene Flasche Mineralwasser, eine noch verkorkte Flasche Weißwein. Eine Schachtel Margarine, eine Packung Schnittbrot. Eine winzige Ecke Cheddarkäse, in Alufolie eingewickelt. Das war alles.
Sie merkte, dass sie Hunger hatte, nahm sich eine Scheibe Brot und den Käse, aß beides im Stehen aus der Hand und trank hinterher ein paar Schlucke Wasser. Schon hatte sie ein schlechtes Gewissen. Einkaufen schien nicht zu Marcs Stärken zu gehören, und sie fraß ihm die paar Vorräte auch noch weg. Sie könnte losziehen, den nächsten Supermarkt ausfindig machen und ihm den Kühlschrank mit ein paar schönen Leckereien auffüllen, aber sie verwarf diesen Gedanken rasch wieder. Es mochte zu aufdringlich wirken. Marc war ein erwachsener Mann. Er konnte für sich allein sorgen.
Etwas ziellos streifte sie durch das Wohnzimmer. Wie schon bei ihrem ersten Besuch berührte sie die frappierende Unpersönlichkeit des Raums. Wie ein Hotelzimmer oder eine möblierte Wohnung. Vielleicht war es das auch. Vielleicht hatte Marc nach der Scheidung alle Möbel, alle Habseligkeiten seiner Exfrau überlassen oder irgendwo eingelagert, um nicht mehr an diese Phase seines Lebens erinnert zu werden, und hatte sich einfach die nächstbeste Unterkunft genommen. Zweifellos lebte er schlechter, als er es müsste. Weshalb? Hatte ihn die ganze Geschichte viel mehr mitgenommen, als er zugab? Die Trennung von seiner Frau, gut, das erlebte heute jedes dritte Paar, schenkte man den Statistiken Glauben. Aber was mochte die grausame Trennung von seinem Sohn, von seinem einzigen Kind, für ihn bedeuten? Sie dachte an Dennis, der mit Rob zwar falsch umgehen mochte, von dem sie aber wusste, dass er mit jeder Faser an ihm hing. Es hätte Dennis in völlige Verzweiflung getrieben, hätte ihn ein Schicksal wie das von Marc ereilt. Vielleicht war es Marc nun gleichgültig, wie und wo er lebte. Er hatte sein Leben auf seine Arbeit reduziert. Wahrscheinlich hielt er sich nur zum Schlafen in dieser Wohnung auf. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er selbst die Wochenenden in seinem Büro verbrachte.
Der Gedanke an Dennis und Rob rief ihr den längst versprochenen Anruf ins Gedächtnis. Sie zog ihr Handy hervor und tippte Robs Nummer ein. Ihr war unbehaglich zumute. Sie kannte Robs direkte Art, Fragen zu stellen. Sie mochte ihn nicht belügen, aber was sollte sie ihm darüber sagen, wie sich ihre Zukunft gestalten würde? Sie wusste es ja selbst nicht.
Rob meldete sich beim ersten Klingeln. Er hatte ihre Nummer auf dem Display erkannt, denn er sagte sofort: »Rosanna?«
»Hallo, Rob. He, was machst denn du für Sachen?« »Weiß nicht.«
»Klar weißt du das! Ich meine, dass du deine Mutter aufsuchst, finde ich ja ganz verständlich und in Ordnung, aber du hättest es deinem Dad vorher sagen müssen. Wir haben uns beide große Sorgen gemacht.«
»Hm.«
»Wie geht es dir?«
»Gut.«
»Ist deine Mutter bei dir?«
»Die ist einkaufen. Aber sie kommt bald nach Hause. Dann wollen wir irgendetwas zusammen unternehmen. Zu McDonald's gehen, oder so. Dad ist wieder in Gibraltar.«
»Ich weiß. Ich habe schon mit ihm telefoniert. Rob …«, sie zögerte, denn sie wollte ihm nicht das Gleiche sagen, was er wahrscheinlich seit Tagen von allen Erwachsenen ringsum zu hören bekam. Aber schließlich brachte es nichts, das Wesentliche auszusparen.
»Rob, du weißt, dass du nicht einfach so aus deinem Leben ausbrechen kannst. Du lebst in Gibraltar. Du gehst dort zur Schule. Du kannst nicht alles stehen und liegen lassen und deine Zelte plötzlich hier aufschlagen.«
»Das hast du doch auch gemacht.«
»Das ist etwas ganz anderes. Ich habe …«
»Du bist plötzlich verschwunden, und seitdem existieren wir gar nicht mehr für dich. Du hast uns vergessen. Du wolltest mich gestern anrufen, aber das war natürlich nicht wichtig genug!«
»Es war mir wichtig. Du bist mir wichtig. Aber gestern …« Sie mochte ihm nicht die
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