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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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ganze Geschichte erzählen. Was sie beide anging, war sie sowieso unerheblich.
    »Mein Bruder Cedric hatte einen Unfall«, sagte sie deshalb nur. »Er musste ins Krankenhaus. In Taunton. Ich war deswegen gestern sehr aufgeregt und durcheinander. Es tut mir leid, dass ich darüber den Anruf bei dir vergessen habe.«
    Rob schwieg eine Weile. »Wo bist du jetzt?«, fragte er.
    »Hier in London. Bei … Freunden. Ich werde aber wahrscheinlich heute Abend noch nach Taunton fahren. Ich möchte nach Cedric sehen.«
    »Kann ich mitkommen?«
    Das hatte sie befürchtet. Dass Rob sich nun an sie klammerte. Sie wollte nach Kingston St. Mary, sich in ihrem Elternhaus verkriechen. Sich klar werden über ihre Zukunft. Rob war der letzte Mensch, den sie dabei gebrauchen konnte.
    »Rob, das geht doch nicht. Du …«
    »Warum nicht?«
    »Weil du eigentlich schleunigst zurückfliegen müsstest zu deinem Vater. Was soll er denn deinen Lehrern erzählen?«
    »Wir könnten dann zusammen zurückfliegen!«
    »Ich weiß aber noch nicht, wann ich zurückfliege.«
    Wieder ein längeres Schweigen, dann sagte Robert ebenso aggressiv wie verzweifelt: »Du weißt nicht, ob du überhaupt zurückfliegst! Stimmt's? Das ist doch der springende Punkt. Und deshalb willst du mich auch nicht bei dir haben!«
    »Ich weiß nicht, wie es Cedric geht. Davon hängt alles Weitere ab.«
    »Und wenn es ihm gut geht? Wann fliegst du dann zurück?«
    »Es geht ihm im Moment bestimmt nicht gut.«
    »Wie günstig für dich«, sagte Rob bissig.
    Rosanna merkte, dass sie ihr Handy viel zu hart umklammert hielt, zudem presste sie das Gerät so fest ans Ohr, dass ihr Ohrläppchen glühte. Sie atmete tief durch, bemühte sich um ein wenig Entspannung.
    »Rob, das ist nicht sehr fair, was du da sagst«, erwiderte sie ruhig, »und ich glaube, das weißt du auch. Ich kann mich in deine schwierige Situation durchaus hineinversetzen, aber du bist nicht der Einzige, der Probleme hat, und das solltest du auch einmal sehen. Im Übrigen finde ich, dass du, wenn du schon in England bist, die Zeit nutzen solltest, deine Mutter besser kennen zu lernen. Anstatt mit mir an Cedrics Bett zu sitzen!«
    Leise sagte Robert: »Ich kenne meine Mutter jetzt. Es funktioniert nicht zwischen uns.«
    »Aber …«
    »Sie ist nett. Ich glaube auch, sie gibt sich richtig Mühe. Aber im Grunde hat sie absolut keine Ahnung von mir oder von jungen Leuten überhaupt. Alles, was ihr einfällt, ist, mich andauernd zu McDonald's zu schleifen oder mit mir in Kinofilme zu gehen, für die ich zu alt bin. Sie wirkt total gestresst, und ich glaube, sie fiebert meiner Abreise entgegen.«
    »Sei gnädig! Was erwartest du denn? Du stolperst urplötzlich in ihr Leben, und sofort soll sie mit dir den perfekten Umgangston haben und genau wissen, wonach dir der Sinn steht! Natürlich ist sie gestresst von der Situation, das wäre ich auch. Jeder wäre es.«
    »Mit dir war es aber immer anders. Mit dir war es so … so selbstverständlich!«
    »Wir hatten aber auch viel mehr Zeit, uns aneinander zu gewöhnen.«
    »Du warst von Anfang an superokay!«
    »Und du warst viel jünger. Ein zehnjähriger Junge ist ziemlich unkompliziert im Umgang. Ich musste dir bloß das richtige Trikot vom richtigen Fußballverein schenken, schon hatte ich dein Herz gewonnen. Jetzt bist du sechzehn. Das ist viel schwieriger.«
    »Immerhin wusstest du, welcher der richtige Verein ist«, sagte Robert bockig.
    Rosanna lachte. »Ich verrate dir jetzt mal etwas: Dein Vater hat mir das damals gesagt. Ich hatte keinen blassen Schimmer von Fußball.«
    Rob schien ein paar Momente zu brauchen, diese Information zu verdauen. Dann sagte er: » Sie ist nicht meine Mutter, das weiß ich jetzt. Du bist es!«
    Und damit legte er auf.
    »Mist«, sagte Rosanna laut. Sie überlegte, ob sie ihn noch einmal anrufen sollte, entschied sich aber dagegen. Es brachte nichts, sie drehten sich im Kreis. Zudem würde er wieder versuchen, sie auf Aussagen festzunageln, die sie jetzt nicht abgeben konnte. Es mochte feige sein, aber vorerst würde sie sich bei ihm nicht mehr melden.
    Sie sah auf ihre Uhr. Halb zwei. Was sollte sie mit dem langen Nachmittag anfangen, der sich vor ihr dehnte?
    Schließlich brach sie zu einem Spaziergang auf. Über eine Stunde lang lief sie durch den kalten, stillen Tag. Nach dem Sonnenschein der letzten Tage begann sich der Himmel nun zunehmend mit weißen Schlieren zu überziehen, die Sonne verlor an Kraft. Kein Windhauch rührte sich.

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