Die Letzte Spur
armen, behinderten, völlig allein zurückgebliebenen Bruders ist genau ein Thema, das die Leser von Cover lieben werden. Ich tue das alles, aber ich will dafür etwas von dir. Ich will, dass du in deinem Artikel Marc Reeve noch einmal richtig hinhängst. Ihn noch einmal den Leuten zum Fraß vorwirfst. Seinen Albtraum noch einmal zum Kochen bringst, dass seine Nachbarn mit den Fingern auf ihn zeigen und seine letzten erbärmlichen Mandanten wegbleiben. Das ist meine Bedingung. Ansonsten erfährst du nichts von mir, kein Sterbenswörtchen!«
Sie wirkte völlig perplex. »Marc Reeve?«
»Marc Reeve«, wiederholte Geoff. »Der Mann, der sie an jenem Abend in seine Wohnung gelockt hat. Er ist Elaines Mörder, Rosanna. Es konnte ihm nur nicht nachgewiesen werden. Marc Reeve hat meine Schwester umgebracht und mein Leben zerstört, und wäre ich nicht ein so erbärmlicher Krüppel, ich hätte ihn längst dafür zur Rechenschaft gezogen, das schwöre ich dir. Mach ihn fertig, Rosanna. Du bekommst jede Hilfe von mir!«
Sie sah ihn aus großen, nachdenklichen Augen an.
Montag, 11. Februar
1
Angela Biggs wusste, was sie wollte: Sie wollte aus der trostlosen Sozialwohnung in Islington heraus und in ein besseres Leben hinein. Sie hatte keine Lust, noch viele Jahre lang in der bedrückenden Enge von achtzig Quadratmetern zusammen mit ihren Eltern und ihren vier jüngeren Geschwistern zu hausen. Sie teilte sich eine winzige Kammer mit ihrer Schwester. Die drei Jungs schliefen in einem etwas größeren Zimmer nebenan. Die Eltern klappten nachts das Sofa im Wohnzimmer aus, um darauf schlafen zu können. Dad hatte manchmal Arbeit, meistens aber nicht. Mum hatte begonnen, schon am frühen Morgen zu trinken. Den ältesten der Brüder hatte neulich erst die Polizei nach Hause gebracht, weil er zusammen mit anderen Jugendlichen in einen Spirituosenladen eingebrochen war. Angelas Schwester, die sechzehnjährige Linda, knallte sich seit einigen Monaten pfundweise Schminke ins Gesicht und zog Röcke an, die so kurz waren, dass sie es auch gleich hätte sein lassen können. Deswegen hatte sie Streit mit ihrem Vater gehabt, drei Tage zuvor.
»In dem Aufzug verlässt du nicht das Haus!«, hatte er gebrüllt, als sie sich anschickte, im Jeans-Mini und Overknee-Stiefeln aus der Wohnung zu stöckeln.
»Mensch, was ist denn dabei?«, hatte sie zurückgeschrien. »Schau dich doch mal um! So laufen jetzt alle rum!«
Was nicht stimmte, wie Angela wusste. Viele junge Mädchen zogen sich sehr sexy an, aber nicht so grell, so völlig übertrieben. Linda konnte vor lauter Farbe fast nicht mehr aus den Augen schauen, und die bleistiftdünnen Absätze ihrer Stiefel waren mörderisch hoch. Der Rock bedeckte kaum ihren Po. Was Angela aber wieder einmal aufgefallen war, war die Qualität der Klamotten: Die Aufmachung mochte billig sein, die Sachen selbst waren es mit Sicherheit nicht gewesen. Angela kannte sich ein wenig aus, weil sie in ihrer Sehnsucht nach einem besseren Leben oft durch die feinen Etagen von Harrods streifte und heimlich edle Stoffe berührte und mit Blicken in sich aufsog. Sie hatte ein Gespür dafür entwickelt, was Dinge wert waren. Es war ihr schleierhaft, wie Linda, die nach ihrer abgebrochenen Schullaufbahn, einer abgebrochenen Lehre und einem abgebrochenen Job im Büro einer Autowerkstatt arbeitslos war, ihre Outfits finanzierte.
Sie hatte die Schwester danach fragen wollen, aber dazu war es nicht mehr gekommen. Denn der Streit mit Dad war an jenem Abend eskaliert, und nach einem heftigen Wortgefecht, von dem sämtliche Bewohner des Sozialblocks, in dem sie lebten, jedes Wort mitbekommen haben dürften, hatte Dad gebrüllt: »So will ich dich hier nicht mehr sehen, du Nutte!«
»Du wirst mich hier überhaupt nicht mehr sehen!«, hatte Linda zurückgeschrien, bevor sie türenschlagend die Wohnung verließ.
Seitdem war sie nicht mehr aufgetaucht. Seit drei Nächten blieb ihr Bett leer.
Während der ersten beiden Nächte hatten alle gedacht, Linda sei zu ihrem Exfreund gegangen. Von ihm hatte sie sich zwar ein halbes Jahr zuvor getrennt, aber die beiden kamen noch immer recht gut miteinander klar, und sie hatte noch zwei- oder dreimal bei ihm übernachtet. Am Sonntag aber hatte ihn Angela zufällig an einer Bushaltestelle getroffen, wo er mit anderen Jugendlichen herumhing und Bierdosen durch die Gegend kickte. Sie hatte ihn nach Linda gefragt, aber er hatte sie nur erstaunt angesehen. »Linda? Die is nich bei mir.
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