Die Letzte Spur
näherzukommen, Dinge aus seiner Vergangenheit herauszufinden. Gab es noch eine Seite in ihr, die ihm misstraute? Sie hatte keine Antwort auf diese Frage.
»Es ist wegen mir«, unterbrach er, »stimmt's? Vielleicht ist es dir nicht einmal bewusst, aber dieser letzte Schatten eines Verdachts, der auf mir liegt, macht dir zu schaffen. Letztlich hast auch du nur mein Wort, dass ich Elaine nichts angetan habe und über ihren Verbleib so wenig Bescheid weiß wie alle anderen auch. Das kann stimmen oder auch nicht. Ich kann es nicht beweisen. Du erhofftest dir von Jacqueline Aufschlüsse über meinen Charakter. Aber davon abgesehen möchtest du endlich einen Tathergang haben und einen überführten Täter. Dann könntest du diesen Punkt abhaken. Diesen winzigen, nagenden Zweifel für immer ausschalten. Kann es sein, dass es das ist? Dass dich das treibt?«
Sie hätte seinen Verdacht am liebsten entrüstet von sich gewiesen, aber konnte sie das? Lag nicht ein kleines Stück Wahrheit in dem, was er sagte? Gab es einen Zweifel in ihr, oder gab es zumindest die Zweifel der Umwelt, die sie störten, die sie gern entkräftet und für immer zum Verschwinden gebracht hätte?
Es mochte so sein, aber es war zugleich mehr als das. Das Problem um Elaine war kompliziert und vielschichtig.
Müde rieb sie sich ihre brennenden Augen.
»Ich kann nur wiederholen, ich weiß es nicht«, sagte sie. »Bewusst hege ich keine Zweifel an dir, aber ich kann selbst nicht mehr auseinanderhalten, was alles in diese Geschichte hineinspielt. Was ich deutlich spüre, seitdem ich in England bin und Nicks Auftrag angenommen habe, ist, dass ich Schuldgefühle gegenüber Elaine habe. Ich glaube, ich hatte sie all die Jahre, aber ich habe sie ziemlich erfolgreich verdrängt. Jetzt sind sie präsent, und manchmal empfinde ich sie wie schwere Steine, die auf meiner Brust liegen.«
Er schien ein wenig erstaunt. »Schuldgefühle? Weil du …«
»Weil ich sie eingeladen habe damals. Wegen mir hat sie ihre kleine behütete Welt in Kingston St. Mary verlassen und sich in das Abenteuer einer Reise ins Ausland gestürzt. Es ging nur um mich und meine Hochzeit. Und dauernd bedrängt mich jetzt der Gedanke, dass ich es ihr schuldig bin, ihr Schicksal aufzuklären. Nicht, weil das ihr oder irgendjemandem sonst noch etwas nützen würde, aber weil … sie nicht so sang- und klanglos vergessen werden soll. Sonst ist es mit ihrem Verschwinden, mit ihrem Tod vielleicht, genauso wie mit ihrem Leben: Es schert sich niemand darum. Es schaut niemand hin. Sie bleibt dann für immer jemand, der übersehen wird.«
Er nickte, sie konnte sehen, dass er sie verstand. »Aber«, sagte er vorsichtig, »sie zu einer Hochzeit eingeladen zu haben, war nichts Böses. Es war etwas Schönes. Freundschaftliches. Es war der Versuch, sie genau aus dieser Eintönigkeit und Einsamkeit herauszuholen, in der sie offenbar verwurzelt war und aus eigener Kraft nicht herausfand.«
Sie lächelte traurig. Wie schön das klang! Wäre es nur so gewesen!
»Ich wünschte, du hättest recht. Ich wünschte, ich könnte es vor mir selbst so darstellen. Dass ich eine gutherzige und wohlmeinende Freundin war, die Elaine helfen wollte. Aber das war ich nicht. Meine Motive waren nicht so edel.«
Er griff über den Tisch, nahm ihre Hand in seine. Er betrachtete sie sehr ernst, sie konnte sein Bemühen, sie wirklich zu verstehen, erkennen. »Wie waren deine Motive denn?«
Sie merkte, dass ihre fiebrigen Wangen noch stärker zu glühen begannen.
»Meine Motive«, sagte sie unglücklich, »meine Motive waren, glaube ich, die gleichen, die die meisten Menschen aus Kingston St. Mary bewegten, wenn es um Elaine ging. Verstehst du – sie war einfach der geborene Verlierer. Ein Mensch, der durchs Leben ging und nicht beachtet wurde, und wenn sie überhaupt gelegentlich auffiel, dann durch ihre absolute Unscheinbarkeit und Schüchternheit. Sie war der Typ, der nie zum Tanzen aufgefordert wird und bei dem sich im Laden die Leute in der Schlange vordrängeln, weil er zu ängstlich ist, um zu protestieren. Es gab immer wieder Situationen, in denen Menschen sagten: Wir müssen etwas für die arme Elaine tun! Und dann wurde sie zu irgendetwas eingeladen, zu einem Geburtstag oder einer Feier in der Gemeinde, aber dabei war immer spürbar, dass es nicht um sie ging, sondern nur darum, dass sich jemand als barmherziger Samariter aufspielen konnte, oder, noch schlimmer, darum, jemanden dabeizuhaben, gegen den alle anderen
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