Die Letzte Spur
begann, so heftig und untröstlich, dass man ihr schließlich eine Spritze hatte geben müssen, um sie zu beruhigen. Und die Szene des heutigen Abends, den jungen Mann, der ihr den Mittelfinger zeigte und sodann, ihren Protest ignorierend, das Haus verließ und krachend die Tür hinter sich ins Schloss warf. Es war, als hätten ihre Tränen von damals in direkter und unvermeidlicher Konsequenz zu dem Hass geführt, den sie heute in seinen Augen gesehen und der sie tief erschreckt hatte.
Gegen Mitternacht war sie zu Bett gegangen, hatte bis vier Uhr entweder gar nicht oder nur oberflächlich geschlafen, auf Geräusche gelauscht, die die Heimkehr ihres Sohnes hätten ankündigen können, und versucht, trotz ihres Herzrasens zu einer ruhigen Atmung zu finden. Endlich war sie eingeschlafen, aber sie erwachte schon um halb sieben wieder, mit trockenem Mund und dröhnendem Kopf.
Stöhnend richtete sie sich auf. Sie hatte einen heftigen Kater. Wahrscheinlich hatte sie viel mehr Alkohol getrunken, als sie überhaupt bemerkt hatte.
Sie erhob sich, schlüpfte in ihren Bademantel und tappte auf bloßen Füßen hinüber zum Gästezimmer, spähte hinein. Es sah dort wüst aus, schon die ganze Zeit, weil Rob weder sein Bett machte noch Wäsche und Strümpfe in Schubladen und Schränke räumte, sondern alles dort fallen ließ, wo er es gerade auszog. Der Geruch seines Rasierwassers hing noch zwischen den Wänden. Er selbst war nicht da.
Sie lief hinunter. Die Fliesen im Flur waren eiskalt unter ihren nackten Füßen. Ein einziger Blick zeigte ihr, dass Robs Jacke nicht an der Garderobe hing und dass auch sein Schlüssel fehlte. Ohne Frage war er in der Nacht nicht mehr nach Hause gekommen.
In der Küche standen zwei leere Weinflaschen auf dem Tisch. Marina starrte sie an. Die eine, so entsann sie sich dunkel, war nur noch halb voll gewesen, die andere hatte sie neu geöffnet. Sie hatte eineinhalb Flaschen ganz allein getrunken. Kein Wunder, dass sie sich fühlte, als sei ihr Kopf in einen Schraubstock gespannt.
Sie nahm ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Leitungswasser, trank es gierig leer, füllte es gleich ein zweites Mal. In einer Schublade fand sie ein letztes Aspirin in einem Röhrchen und warf es in das Glas.
Die Frage war, was sie nun tun sollte.
Draußen dämmerte der Tag herauf, ohne Nebel, es schien sonnig zu werden. Die Kälte kroch an ihren nackten Beinen hoch. Sie wartete, dass sich die Tablette auflöste, und überlegte dabei, ob sie Dennis anrufen sollte. Es hätte ihr etwas von dem belastenden Gefühl der alleinigen Verantwortung genommen, aber andererseits konnte Dennis im Augenblick gar nichts tun und sie hätte ihn nur schwer beunruhigt. Vielleicht war ja gar nichts passiert. Bloß – wo hatte Rob die Nacht verbracht?
Sie trank ihr Aspirin, dann lief sie hinauf ins Bad, duschte lang und heiß, zog sich warm an, lief wieder hinunter, aß ein Toastbrot und trank einen starken Kaffee. Sie fühlte sich schon ein wenig besser. Da es sie verrückt machen würde, hier im Haus herumzusitzen, würde sie sich jetzt ins Auto setzen und die Gegend abfahren. Es mochte völlig sinnlos sein, aber es war andererseits nicht ausgeschlossen, dass er sich irgendwo herumtrieb, und es hatte in jedem Fall mehr Sinn, als einfach nur zu warten. Sie würde sich einen Zeitpunkt setzen, zu dem sie Dennis verständigen und sich dann in Absprache mit ihm an die Polizei wenden würde. Drei Uhr am Nachmittag. Sollte sie Rob bis dahin nicht gefunden haben, sollte er sich nicht gemeldet haben oder wieder bei ihr aufgetaucht sein, würde sie offizielle Wege beschreiten.
Sie verließ das Haus. Der Morgen war kalt, klar und still. Ringsum schienen die meisten Leute noch zu schlafen. Marina machte sich auf die Suche nach ihrem Sohn.
»Ich bewundere dich«, sagte Cedric sanft, »du bist mutig und stark. Wirklich.«
»Ich wünschte, ich könnte mich so fühlen«, sagte Pam. »Mutig und stark. Im Augenblick habe ich nichts als Angst.«
Sie sah müde aus und versank fast in einem grauen Rollkragenpullover von Cedric, den er ihr überlassen hatte, damit sie ihre eigenen Sachen einmal waschen konnte. Sie war ungeschminkt, hatte die dunklen Haare aus der Stirn gestrichen. Sie wirkte jünger, als sie war. Wie ein Mädchen Anfang zwanzig. Oder sogar noch wie ein Teenager.
Sie saßen im Wohnzimmer von Cedrics Elternhaus, Pam kauerte mit angezogenen Beinen auf der Couch, Cedric saß in einem Sessel. Er hatte immer noch Schmerzen, aber sie
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