Die Letzte Spur
so vorteilhaft abstachen. Neben Elaine fühlte man sich erfolgreich und attraktiv und vom Leben bevorzugt, ganz gleich, in welchen Problemen man gerade steckte. So arm dran wie sie war man jedenfalls nie – und wenn das nur deshalb war, weil man immer Hoffnung auf Veränderung und Verbesserung in sich tragen konnte. Bei ihr schien es diese Hoffnung nicht zu geben. Weder hegte sie sie, noch jemand anderes tat es für sie. Nach dem Unglück mit ihrem Bruder schon gar nicht. Sie schien dazu verurteilt, als alte Jungfer durchs Leben zu gehen und die Haushälterin für einen Rollstuhlfahrer zu spielen. Wir anderen konnten Prüfungen versieben, unsere Beziehungen konnten scheitern, wir konnten pleite sein oder von unserem Chef gefeuert werden, aber wir lebten doch zumindest. Und man konnte sich dann immer sagen: Schöner Mist, in den ich mich gerade hineingeritten habe, aber wenigstens bin ich nicht ein so armer Teufel wie Elaine. Und schon fühlte man sich besser.«
»Ich verstehe«, sagte Marc.
Sie sah ihn an. »Findest du nicht, dass das eine Form von Missbrauch ist? Einem anderen Menschen gegenüber?«
Er überlegte. »Das würde ich so nicht sagen. Es ist, glaube ich, einfach … ein sehr menschliches Verhalten. Darüber hinaus lässt es dem anderen jede Möglichkeit, sich aus seiner Rolle hinauszukatapultieren. Elaine musste nicht in ihrer Situation verharren.«
»Aber …«
»Das sagt sich leicht, ich weiß. Trotzdem ist es so. Sie musste nicht so unscheinbar herumlaufen. Sie musste sich nicht von jedem die Butter vom Brot nehmen lassen. Sie musste sich nicht derart von ihrem Bruder ausbeuten lassen. Dafür, dass sie es getan hat, konnte niemand etwas. Niemand war dafür verantwortlich. Auch du nicht.«
»Als ich die Einladung an sie abschickte, kam ich mir sehr großherzig vor. Die arme Elaine! Sie war absolut keine Bereicherung für eine Festlichkeit, aber in meiner Gutmütigkeit würde ich sie trotzdem dazubitten. Die Wahrheit war: Ich würde ihr vorführen, wie weit ich es gebracht hatte – ein attraktiver, erfolgreicher Mann, ein entzückender Stiefsohn, ein wunderschönes Haus in der Wärme und Sonne Gibraltars. Ein rauschendes Hochzeitsfest. Ich wusste genau, dass es sie quälen würde, dies mitzuerleben, und dass sie wieder völlig am Rand stehen würde, aber irgendwie machte ihre Armseligkeit mich noch glanzvoller, und das wollte ich mir nicht entgehen lassen.«
Er drückte ihre Hand. »Nicht schön, stimmt. Aber viele würden so empfinden. Wir sind nun mal alle keine Heiligen.«
»Kurz vor der Hochzeit telefonierte ich mit Cedric und erzählte ihm, dass Elaine zugesagt hatte. Wir machten Witze über sie – dass sie es nie schaffen würde, sich von Geoffrey loszueisen, und dass sie ihr Kleid bestimmt wieder im spießigsten Textilgeschäft von Taunton kaufen würde. Schließlich schlossen wir eine Wette ab: Cedric meinte, sie kommt nicht, weil sie es gleich gar nicht schafft, am richtigen Tag zur richtigen Zeit in das richtige Flugzeug zu steigen. Ich sagte, sie kommt, aber sie wird zunächst in der falschen Kirche landen und schweißüberströmt sein, bis sie endlich die richtige Hochzeitsgesellschaft gefunden hat. Wir fanden das echt komisch. Aber dann … kam sie wirklich nicht, und am Ende … war nichts daran mehr komisch.«
Marc nickte. »Ich verstehe, was dich dabei bewegt. Aber du weißt auch, dass nichts von all dem etwas damit zu tun hat, was geschehen ist – was immer es war. Irgendjemand ist schuldig an Elaines Verschwinden, aber nicht du. Und wenn deine Beweggründe, sie einzuladen, lauterster und reinster Natur gewesen wären, es hätte nichts geändert.«
»Es hätte etwas geändert, wenn ich sie gar nicht eingeladen hätte. Ich wusste, dass diese Reise sie total überfordert. «
»Aber das würde bedeuten, jemanden wirklich für immer in seiner Isolation sitzen zu lassen. Sieh es doch einmal so: Die Reise hätte auch eine echte Chance sein können. Wäre alles gutgegangen, so hätte es bestimmt einen Auftrieb für ihr Selbstbewusstsein bedeutet. Vielleicht hätte sie sich ein anderes Mal wiederum eine Reise zugetraut. Sie hatte nun auch die Möglichkeit, sich ein wenig von Geoffrey abzugrenzen, einen ersten Schritt in Richtung Emanzipation zu wagen. Das war wichtig für sie. Und in diesem Punkt übrigens war sie auch erfolgreich. Sie hatte ihm gegenüber die Reise durchgesetzt. Wie sie mir erzählte, hat er ein ziemliches Theater deswegen veranstaltet, aber sie ist trotzdem
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