Die Letzte Spur
sich.
»Rob …«
»Fährst du mich nun oder nicht?«
Sie nickte resigniert. Er würde sonst wieder ausreißen und sich als Anhalter durchschlagen, und wer wusste, was dann noch passierte.
»Ich fahre dich«, sagte sie.
»Ich glaube, die Tragödie begann damit, dass mir Elaine in jener Nacht zu viel von sich erzählte. Als wir in diesem italienischen Restaurant saßen, Pasta aßen und vielleicht etwas zu viel Wein tranken, hatte ich den Eindruck, dass nach und nach ein Staudamm bei ihr brach. Sie war so verzweifelt. Dieser Totalausfall auf dem Flughafen, für mich und Tausende von Passagieren einfach zutiefst ärgerlich, war für sie die komplette Katastrophe – aus ihrer Sicht typisch für eine ewige Verliererin. Sie konnte das überhaupt nicht als das einordnen, was es war: Pech, das aber keineswegs nur sie betraf. Sie war fix und fertig, und dann ergoss sich ihre gesamte Lebensgeschichte über mich, und alles war ein einziges Drama vom ersten Tag an. Sie hatte keine richtigen Freunde, sie war nicht beliebt gewesen in der Schule, sie wurde zu einem unansehnlichen Teenager, sie blieb in der Tanzstunde sitzen, kein Junge interessierte sich für sie, sie verlor vergleichsweise früh beide Eltern, und so weiter. Höhepunkt war dann der Unfall, der ihren Bruder zum Rollstuhlfahrer machte. Dadurch, dass sie seine Betreuung übernahm, sah sie sich endgültig ins Abseits gedrängt, zumal er sie mit allen Mitteln an sich kettete. Sie träumte davon, zu heiraten, Kinder zu haben, aber sie sah überhaupt keine Chance, diesen Wunsch je verwirklichen zu können. Wegen der Rolle, die sie im Leben ihres Bruders eingenommen hatte, aber auch, weil kein Mann sie je ansah. Sie sagte, sie werde im Leben ständig übersehen. Von den Menschen, aber auch von jedem günstigen oder glücklichen Schicksal. Sie jammerte über ihre Unscheinbarkeit. Sie wirkte wirklich verzweifelt auf mich.
Ich hörte ihr zu, aber eher höflich und ergeben als interessiert. Ich hatte eigene Probleme. Einmal der Terminausfall, der sich für mich aus dem gestrichenen Flug ergab, aber dann natürlich auch Josh. Die Scheidung von Jacqueline stand bevor. Ich wusste, es gab keine Chance mehr, dass wir als Familie noch einmal zusammenkommen. Josh wollte mich nicht sehen, aber ich hoffte, doch noch einen Weg zu ihm zu finden, ihn dazu zu bringen, die Situation anders zu sehen und zu beurteilen. Ich überlegte, ob ich ein geteiltes Sorgerecht vor Gericht würde herausschlagen können, was natürlich angesichts von Joshs ablehnender, um nicht zu sagen: hasserfüllter Haltung schwierig werden würde. Kurz: Mein eigenes Leben sah auch gerade nicht allzu rosig aus, aber ich hatte keine Lust, dieser fremden Frau davon zu erzählen. Ich bereute bereits, sie mitgenommen zu haben. Sie redete einfach zuviel, und das in einer so düsteren Art, dass sich meine eigene Stimmung noch verschlechterte.
Als wir wieder in meinem Haus waren, zeigte ich ihr das Gästezimmer. Direkt daneben lag Joshs Zimmer. Jacqueline hatte bei ihrem Auszug vieles daraus mitgenommen, aber was zurückgeblieben war – hauptsächlich Spielsachen, für die Josh zu alt war –, hatte ich ein Dreivierteljahr lang nicht angerührt. Der Raum war jedenfalls unschwer als Kinderzimmer zu erkennen. Die Tür stand offen.
Elaine erkundigte sich sofort, ob ich Kinder hätte, ich sagte, ja, einen Sohn, der bei meiner Noch-Ehefrau lebe. Und nun drehte sie den Spieß um, und das ist es, weshalb ich am Anfang sagte, die Tragödie begann damit, dass Elaine zu viel von sich erzählte. Vielleicht hatte der kurze Rückweg vom Restaurant durch die kalte Winterluft die Wirkung des Alkohols gemindert, oder sie war aus sonst irgendeinem Grund ins Nachdenken gekommen. Auf jeden Fall glaube ich, dass sie zu bereuen begann, sich derart geöffnet zu haben, zumal auf eine Weise, die sie als unattraktive, altjüngferliche Pechmarie darstellte. Ihr war klar, dass ich nun gar nicht anders konnte, als sie mit ihren eigenen Augen zu sehen, und das war kein anziehendes Bild. Zugleich war ihr Schwips doch noch stark genug, dass sie sowohl einen Teil ihrer Schüchternheit als auch ihres Realitätssinns verlor. Ich kann es nicht beschwören, aber ich meinte, Anzeichen zu erkennen, dass sie anfing, sich Hoffnungen zu machen, aus diesem Abend könnte sich eine weitergehende Geschichte für uns beide entwickeln. Es ist nicht so, dass sie etwas Derartiges direkt gesagt hätte. Aber sie deutete an, dass unsere Begegnung ja doch etwas
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