Die Letzte Spur
Schicksalhaftes habe. Ich dachte nur, o Gott, bloß nicht! Ich hoffte, sie werde nun schnell zu Bett gehen, sofort einschlafen und am nächsten Tag in aller Frühe mein Haus verlassen. Danach würde ich in meinem ganzen Leben nichts mehr von ihr hören.
Stattdessen biss sie sich an dem Thema Josh fest. Da sie nicht ungesagt machen konnte, was sie nun einmal von sich gegeben hatte, versuchte sie, mich auf ihre Ebene hinunterzuziehen und damit einen Gleichstand zwischen uns herzustellen. Ich glaube nicht einmal, dass das ein bewusstes Handeln war. Sie tat das instinktiv. Vielleicht hätte jeder andere das Gleiche getan.
Elaine war nicht dumm. Dass Josh meine Achillesferse war, hatte sie sofort gewittert. Meine gescheiterte Ehe, der Verlust meines Sohnes – damit war ich ja schon fast ein ebenso trauriger Verlierer wie sie. Ich hatte vielleicht mehr aus meinem Leben gemacht als sie, aber ich hatte ja dann alles wieder in den Sand gesetzt, und am Ende stand ich so einsam da wie sie. Ich sehe sie noch vor mir, sie saß in Joshs Zimmer auf dem Fußboden, streichelte irgendein zerrupftes Kuscheltier und lamentierte über das, was in meinem Leben schiefgelaufen war. Dabei war sie nicht zimperlich. Alles, was sie je über das Schicksal von Scheidungskindern gelesen oder gehört hatte, brachte sie nun aufs Tablett: die Zerrüttung ihrer Seelen, ihre Verstörtheit, ihre Zerrissenheit. Aber auch die lebenslange Traurigkeit eines Vaters, der sein einziges Kind verliert, wurde natürlich thematisiert. Wie würde ich damit leben, damit umgehen? Würde das einen seelischen Krüppel aus mir machen, mich zu einem verbitterten Einsiedler werden lassen?
In diesem Stil ging es weiter. Am Anfang war ich nur genervt, versuchte sie zu bremsen, indem ich auf ihre Fragen nur knappe, nichtssagende Antworten gab und ansonsten schwieg. Aber sie ließ nicht locker. Sie bohrte immer weiter, wollte wissen, woran unsere Ehe denn gescheitert sei. Wie oft ich Josh sehen würde. Wie unser Verhältnis sei. Ob ich glaubte, trotz allem eine enge, vertrauensvolle Beziehung zu meinem Sohn aufbauen und aufrechterhalten zu können.
Heute verstehe ich nicht mehr, wieso die indiskreten Bemerkungen und Fragen einer wildfremden Person, die ich kaum kannte und die nicht die geringste Bedeutung für mich hatte, mich immer mehr in die Enge treiben konnten. Ich bin Anwalt. Ich bin ein erwachsener Mann. Ich war es gewohnt, insistierende Fragen kühl abzuschmettern, das war und ist Teil meines Jobs. Ich kann im Nachhinein nur sagen, dass meine seelische Konstitution, was die Trennung von Josh betraf, damals wohl noch labiler war, als mir selbst klar war. Ich stand in der Tür seines einstigen Zimmers, sah ihn vor mir, wie er abends in seinem Hochbett saß und in Büchern blätterte, oder wie er Stunde um Stunde mit seiner Eisenbahn spielte, und ich begriff in aller Schärfe, dass diese Bilder für immer der Vergangenheit angehörten, dass es neue in dieser Art nicht geben würde. Die ganze Härte des Verlusts traf mich plötzlich mit neuer Kraft, und ich sah diese Fremde dort sitzen, diese mir so unsympathische Person, die ich schon längst nicht mehr in meinem Haus haben wollte, mit der ich nichts zu schaffen hatte, und sie streichelte ein Kuscheltier meines verlorenen Sohnes und laberte, was das Zeug hielt.
Ich erinnere mich, dass das Bild plötzlich vor meinen Augen verschwamm und dass ich einen schrecklichen Moment lang von dem Wunsch nach Gewalt erfasst wurde, ich hätte hingehen und sie packen, grob in die Höhe reißen, ihr meine Faust ins Gesicht schmettern und sie dann auf die Straße werfen mögen. Einfach nur, damit sie still ist. Damit sie aufhört, wieder und wieder ein Messer in meine Wunde zu stoßen. Ich hätte ihr Schmerzen zufügen mögen, damit ich meine eigenen Schmerzen weniger heftig fühle.
Ich tat es nicht. Ich bin kein Mörder, wie ich schon sagte, und ich bin auch kein gewalttätiger Mensch. Im Gegenteil, schon die Tatsache, dass ich überhaupt eine solche Situation vor mir sehen und den Wunsch in mir spüren konnte, sie in die Tat umzusetzen, erschütterte mich. Und ängstigte mich.
Was dann geschah, ist verschwommen in meiner Erinnerung. Ich habe wieder und wieder durchzuspielen versucht, was genau vorgefallen ist. Was ich sicher weiß, ist, dass ich sie nicht angefasst habe. Ich habe ihr kein Haar gekrümmt. Ich glaube, dass ich sogar noch versucht habe, im Guten aus der Situation herauszukommen, und dass ich gesagt habe, ich würde
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