Die Letzte Spur
nicht, weshalb er ihr diese Fragen stellen konnte. Sie hatte ihm alles über sich und Elaine erzählt. Er musste wissen, weshalb sie nicht hatte aufhören können, Elaines Schicksal nachzugehen.
Als hätte sie laut gesprochen, sagte er: »Fünf Jahre lang haben dich weder deine Bekanntschaft mit Elaine noch dein Schuldgefühl ihr gegenüber dazu bewogen, diese verrückte Jagd zu beginnen. Und dann plötzlich meinst du, nicht mehr aufhören zu können. Und es ist dir ganz gleich, wen du dabei zerstörst und was alles du kaputt machst!«
Sie versuchte tief zu atmen. »Das Wort Gerechtigkeit kommt bei dir überhaupt nicht vor«, sagte sie.
Er lachte bitter. »Gerechtigkeit! Sag mir mal, ob irgendetwas auf dieser Welt überhaupt gerecht ist! War es gerecht, wie Jacqueline Josh gegen mich aufgehetzt hat? War es gerecht, dass mein Sohn jedes Gespräch, jeden Versuch einer Klärung abgelehnt hat? War es gerecht, dass sie ihn mit ihrer Obsession, was mein angebliches ständiges Fremdgehen betraf, so verrückt gemacht hat, dass er mich bis heute hasst? Ist daran irgendetwas gerecht?«
Ihr fiel der Brief ein, den sie erst vor zwei Tagen in seinem Bücherregal gefunden hatte. Fathers in Defense . Als sie den Brief las, hatte sie das Gefühl gehabt, in Marcs Seele zu blicken. Inmitten seiner unpersönlichen, nichtssagenden Wohnung hatte sie in diesem Moment den Kern seiner Seele berührt. Jenen glühenden, schmerzenden Dorn, der ihn quälte und in ihm eiterte, seit Jahren.
Sein Sohn. Der Verlust, den er nicht verwinden konnte. Sie erinnerte sich, dass ihr der Gedanke durch den Kopf geschossen war: Hier liegt der Schlüssel.
Aber sie hatte in jenem Augenblick nicht erkennen können, welche Tür er aufschloss.
»Josh«, sagte sie, »alles hat irgendwie mit Josh zu tun.«
»Ja«, wiederholte er leise, »alles hat irgendwie mit Josh zu tun.«
Ein Wasservogel schoss plötzlich aus dem Schilf empor und schrie dabei laut. Beide, Rosanna und Marc, schraken zusammen.
»Elaine ist tot«, sagte Rosanna, »und sie liegt auf dem Grund des Flusses. Irgendwo jenseits der Schleuse.« Er nickte.
Sie empfand nicht einmal Wut. Nur Trauer. »Weshalb ist ihr … Körper nie aufgetaucht?«
»Sie ist mit der Ankerkette umwickelt. Sie konnte nicht auftauchen.«
»Ihre Kleider …«
»Sie war voll bekleidet. Ich habe sogar daran gedacht, ihre Handtasche und ihren Koffer mit zu versenken. Aber als ich ins Auto zurückkehrte, sah ich, dass ihr Mantel dort zurückgeblieben war. Ich warf ihn in den Altkleidercontainer an diesem Ausflugsparkplatz. Was ich nicht ahnte, war, dass sich ihr Pass in der Manteltasche befinden könnte. Ich setzte einfach voraus, dass er in der Handtasche steckte. Aber es war wahrscheinlich so, wie du vermutet hast: Sie hatte ihn griffbereit, um ihn am Flughafen vorzuzeigen.« Er schüttelte den Kopf. »Man sagt ja, die meisten Verbrechen werden genau deshalb aufgeklärt. Wegen einer winzigen Ungenauigkeit, einer kleinen Unaufmerksamkeit. Bei mir war es der Pass. Dieser verdammte Pass. Die Tatsache, dass ich die Manteltaschen nicht durchsucht habe. Das bricht mir jetzt das Genick.«
»Normalerweise wäre alles viel früher aufgeflogen«, sagte Rosanna. »Wäre der Pass nicht aus der Tasche gerutscht und neben den Container gefallen, hätte man ihn beim Roten Kreuz wahrscheinlich recht rasch entdeckt und bei der Polizei abgeliefert. Oder wenn ihn jemand anderer gefunden hätte als ausgerechnet Pamela Luke. Eine Frau, die verzweifelt eine neue Identität brauchte. Jeder andere Finder hätte den Ausweis sicher ebenfalls abgeliefert. Die Fundstelle in direkter Nähe zu deinem Yachtclub hätte dich noch viel stärker in den Fokus der Ermittlungen gerückt, und sicher hätte man das Schiff untersucht. In gewisser Weise… hattest du eine Menge Glück.«
»Glück!« Er stützte den Kopf in beide Hände. »Es war ein Albtraum, den ich in jener Nacht erlebte. Einfach nur ein Albtraum. Ich bin kein Mörder, Rosanna. Ich bin in eine Katastrophe geschlittert, die eine Eigendynamik gewann, und ich konnte nur noch reagieren. Ich konnte plötzlich nur noch wie ein Krimineller versuchen, die Katastrophe abzuwenden. Indem ich Spuren verwischte und … eine Leiche beseitigte.«
Er hob den Kopf, sah Rosanna an. Seine Augen glänzten unnatürlich. »Es war ein Unfall, Rosanna. Du musst mir das glauben. Es war ein entsetzlicher Unfall, der in jener Nacht geschah, und alles, was ich danach unternahm, sollte mich irgendwie retten, aber es
Weitere Kostenlose Bücher