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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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vermissen?«
    »Natürlich nicht. Nach allem, was sie mir erzählt hat, war mir klar, dass zumindest ihr behinderter Bruder einen Riesenzirkus veranstalten würde. Aber ich hoffte, dass die Polizei keine allzu großen Anstrengungen in dieser Sache unternehmen würde. Eine erwachsene Frau, die plötzlich verschwindet, ohne dass der geringste Anhaltspunkt für ein Verbrechen vorliegt, löst selten einen besonderen Wirbel aus.«
    »Du musstest aber davon ausgehen, dass man euch zusammen gesehen hat.«
    »Natürlich. Wir hatten lange genug bei dem Italiener gesessen, bei dem ich gut bekannt war. Wir konnten auch von Nachbarn gesehen worden sein. Aber ich setzte darauf, dass Elaines Foto nirgends erscheinen würde. Sie bringen ja weiß Gott nicht jede verschwundene Frau oder jeden verschwundenen Mann in die Zeitung. Solange das nicht geschah, konnte ich mich einigermaßen sicher fühlen. Dass ich bei all dem über verdammt dünnes Eis lief, war mir klar. Aber es gab die Chance, dass ich davonkommen würde, und ich wollte sie nutzen.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Du klingst so … kühl. So … kaltblütig!«
    »Das mag dir jetzt so vorkommen, fünf Jahre danach. Aber so war es in jener Nacht nicht. Ich glaube, dass ich zunächst unter Schock stand, und das bedeutet immer, dass man erst einmal Schutz findet vor dem eigenen Entsetzen. Ich agierte überlegt, aber das funktionierte nur, weil ich wie abgetrennt von mir selbst war. Ich lief hinaus, holte meinen Wagen und parkte ihn direkt vor der Haustür. Es war mittlerweile halb zwölf, und ringsum in den Häusern war alles dunkel. Sicherheitshalber wartete ich dann noch eine halbe Stunde, aber da sich nirgends etwas regte, wagte ich es, nahm Elaine auf den Arm und trug sie in mein Auto. Das Stück über den Gartenweg war gefährlich. Hätte irgendjemand aus einem der umliegenden Fenster gesehen … aber ich hatte wohl Glück. Ich brachte dann noch ihre Handtasche, ihren Koffer und ihren Mantel ins Auto. Elaine lag auf dem Rücksitz. Ich breitete eine Decke über sie. Dann ging ich ins Haus zurück und brach zusammen.«
    Er sah so elend aus, dass sie dachte, wie gern sie, nur für einen Moment, seine Hand genommen hätte. Um ihm zu zeigen, dass sie, trotz allem, noch immer bei ihm war. Aber aus irgendeinem Grund brachte sie es nicht fertig, diesen Schritt zu tun.
    »Ich hatte weiche Knie, und meine Hände zitterten. Ich hätte in diesem Zustand nicht Auto fahren können. Ich glaube, ich setzte mich auf die unterste Treppenstufe, und da saß ich dann einige Stunden lang. Es war schrecklich, als mir nach und nach zu Bewusstsein kam, in welch einer Lage ich mich befand. Dass da draußen eine tote Frau in meinem Auto lag, die unbedingt verschwinden musste. Dass sie in meinem Haus ums Leben gekommen war. Dass ich mir allein dadurch, sie mitsamt all ihren Sachen in den Wagen gebracht zu haben, im Grunde schon den Rückweg abgeschnitten hatte. Ich musste weitermachen, und ich wusste nicht, wie. Alles, was ich wusste, war, dass ich von einem Moment zum anderen in einem Albtraum gelandet war. Und irgendwie begriff ich auch, dass mein Leben, das trotz aller Scherben, die es darin gab, immer noch ein völlig normales Leben gewesen war, nie wieder normal sein würde.«
    Sie versuchte, sachlich zu sein. »Wann kam dir die Idee, mit Elaine auf die Themse hinauszufahren?«
    »Irgendwann. Das Verrückte an der Situation war, dass ich einerseits verzweifelt war und glaubte, jeden Moment durchzudrehen, und dass gleichzeitig mein Gehirn auf Hochtouren lief, um einen Ausweg zu finden. Ich sagte mir, dass niemand je ihre Leiche finden durfte, denn dann wären richtige Ermittlungen angelaufen, und ich wäre nur allzu bald mitten hineingeraten. Und schließlich fiel mir das Schiff ein. Ich wusste übrigens nicht, dass Jacqueline vorhatte, es zu verkaufen. Es war Zufall, dass sie das kurz darauf offenbar tat.«
    »Wann bist du losgefahren?«
    »Ich glaube, so gegen sechs Uhr am Morgen. Ich fühlte mich völlig ausgebrannt und leer. Aber auf irgendeine Weise funktionierte ich. Am Yachtclub war natürlich kein Mensch. Zum Glück besaß ich noch alle notwendigen Schlüssel – ich habe sie bis heute, wie du weißt. Das Schiff startklar zu machen, war kein Problem, ich hatte noch immer die nötige Routine. Du kannst mir glauben, es war nicht leicht, Elaine vom Parkplatz den Pfad hinunter zum Schiff zu tragen, ich war schweißgebadet hinterher. Dann holte ich noch den Koffer und die Handtasche. Wie

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