Die Letzte Spur
haben keine Ahnung, woher sie plötzlich Geld bekommen hat?«
»Nee«, sagte Gordon, »keine Ahnung. Bestimmt nicht durch Arbeit. Arbeiten tut die nämlich nicht. Wahrscheinlich lässt sie sich endlich von dem richtigen Typen bumsen, von einem, der Kohle hat. Was anderes kann ich mir nicht denken.«
»Sie hatten mit Ihrer Tochter Streit, bevor sie am Freitag diese Wohnung verließ?«, fragte Burns.
Gordon schoss Angela einen wütenden Blick zu. »Streit kann man das nicht richtig nennen«, versuchte er die Aussage abzumildern.
»Sie müssen sich in der Art geäußert haben, dass sie sich nicht mehr blicken lassen soll, wenn sie sich nicht … anständiger kleidet?«
»Sie hätten die sehen müssen! Wie eine Nutte! So kann ich doch meine Tochter mit sechzehn Jahren nicht rumlaufen lassen! Die sah echt total verboten aus!«
»Trotzdem haben Sie sie nicht daran gehindert, so herumzulaufen , wie Sie es nennen«, sagte Burns. »Im Gegenteil, Sie haben ihr die Tür gewiesen. Könnte es sein, dass Linda es gar nicht mehr wagt, nach Hause zu kommen?«
»Die? Die is' überhaupt nicht einzuschüchtern, das können Sie mir glauben. Die traut sich alles. Wenn die jetzt nich' heimkommt, dann nich' wegen mir.«
»Sondern …?«
»Weiß nicht. Wie ich gesagt hab. Sie is' bei 'm Kerl. Jede Wette!«
»Ich würde Ihnen dennoch raten, eine Vermisstenmeldung abzugeben«, sagte Burns. »Ihre Tochter ist erst sechzehn. In dem Alter sollte sie nicht tagelang unterwegs sein, ohne dass Sie wissen, wo sie sich aufhält.«
»Ich denk, Angela hat schon …«
»Die Erziehungsberechtigten müssen das tun.«
»Okay«, brummte Gordon, »also, was soll ich machen?«
Carley kramte ein Formular und einen Stift hervor, setzte sich unaufgefordert an den Küchentisch der völlig geistesabwesenden Sally gegenüber.
»Wir brauchen Informationen, die Person Ihrer Tochter betreffend. Name, Geburtsdatum, Alter, Größe, Haarfarbe und so weiter. Welche Kleidung trug sie am Tag ihres Verschwindens? Und es wäre auch nützlich, wenn wir ein Foto von ihr haben könnten.«
»Schwachsinn«, murmelte Gordon, aber er zog sich einen weiteren Stuhl heran und ließ sich darauf nieder.
»Also, Linda Biggs«, begann er, »sechzehn Jahre alt, geboren am 8. Dezember 1991, blond gefärbte Haare …«
Angst schnürte Angelas Kehle zu. Ganz plötzlich. Es musste an der Situation liegen. An dem Polizisten, der in der schmuddeligen Küche an dem unordentlichen Tisch saß und Linda auf einen Steckbrief reduzierte. Sie wurde vermisst.
Ihre kleine Schwester wurde vermisst.
Lieber Gott, lass sie einfach nur weggelaufen sein, betete sie im Stillen, sie, die sonst nie betete.
Aber aus irgendeinem Grund glaubte sie nicht an das Weglaufen.
4
Jenseits des Fensters wirbelte ein Schneeschauer aus dem tiefhängenden, fast anthrazitgrauen Himmel zur Erde, aber die Flocken blieben nicht liegen, sondern schmolzen, kaum dass sie den Asphalt der Straße berührten. Die Autos, die sich durch den spätnachmittäglichen Londoner Berufsverkehr quälten, hatten ihre Scheibenwischer auf höchste Stufe gestellt, um in dem wilden Gewirbel noch etwas sehen zu können. Das Bild der Stadt war grau und trostlos. Im Innenbereich von London hatte der Frühling seine ersten Boten noch nicht etablieren können.
Rosanna wandte sich vom Fenster ab und betrachtete das Hotelzimmer, in dem sie während der nächsten vierzehn Tage wohnen würde. Nick hatte sich nicht lumpen lassen: Hilton on Park Lane, der eindrucksvolle Wolkenkratzer, direkt am Hyde Park gelegen. Die Zimmer waren großzügig und luxuriös. Ein breites Bett, eine schöne Sitzgruppe, Fernseher, Mini-Bar, ein begehbarer Kleiderschrank in Mahagonitäfelung, ein mit Marmor gefliestes Bad. Sie verfügte zudem über einen großen Schreibtisch, an dem sie auch einen Internetanschluss für ihren Laptop besaß. Einem gründlichen, effizienten Arbeiten in angenehmer Umgebung stand nichts im Wege.
Es klopfte an die Tür, und Cedric kam herein. Er hatte sich für seinen London-Aufenthalt, während dem er vor allem Freunde und Bekannte von früher besuchen wollte, ein Zimmer direkt neben dem seiner Schwester gebucht. Rosanna vermutete, dass dies sein Budget ziemlich überfordern würde, mochte aber nichts sagen. Cedric war erwachsen, er war achtunddreißig Jahre alt. Er konnte es vermutlich nicht leiden, wenn man sich ungefragt in seine Angelegenheiten mischte, auch nicht oder erst recht nicht, wenn es die jüngere Schwester
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